Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

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Luna hat mir ein YouTube-Video gezeigt, das zum Ausdruck bringt,
wie sie gerne ihren Tag beginnen würde. In dem Filmchen ging es
um die Morgenroutine einer Gesundheits-Influencerin. Sie steht
um sechs Uhr auf, entzündet eine Kerze, trinkt einen halben Liter
warmes Wasser und meditiert dann erst mal ein bisschen, während
das Morgenlicht in ihr Wohnzimmer fällt. Zum Meditieren ent-
zündet sie ein kleines Bündel von Duftkräutern, die sie in ihrem
eigenen Garten gezogen hat. Sie schwenkt die kokelnden Kräuter
ein wenig, damit sich die Luft mit Aromen anreichern kann. Dann
macht sie Yoga. Sie streckt und biegt ihren Körper in alle Rich-
tungen und ist dann ideal präpariert für einen Tag, der – wenn er
so beginnt – nur sehr erfolgreich werden kann. »Wenn man das
ansieht, würde man es gerne ganz genauso machen, aber dazu fehlt
mir irgendwie die Energie«, sagte Luna.
Das verstehe ich gut. Als ich in Lunas Alter war, gab es das Wort
Morgenroutine noch gar nicht. Mein Morgen begann so, dass ich
aufwachte, eine halbe Stunde nachdem der Wecker geklingelt hatte.
Dann starrte ich lange an die Decke. Anschließend versuchte ich,
mit so wenigen Bewegungen wie möglich in die Nähe einer Tasse
Kaffee zu kommen. Ich hätte mir eher eine Zigarette angezündet als
ein Bündel Kräuter. Aber ich musste auch schon sehr schnell los,
weil ich für alle Termine, zu denen ich musste, schon wieder viel zu
spät dran war. Der Morgen war für mich das Reich des Kopfwehs
und der Muffgerüche.
Derweil lief das Video weiter, die Influencerin erklärte, manchmal
am Wochenende sei sie sehr, sehr faul, da stehe sie leider erst spät
auf, so um acht Uhr. In diesem Moment musste ich prusten. »Acht
Uhr! Ich bin früher am Wochenende gar nicht aufgestanden!« Luna
sagte dazu nichts, aber ich konnte an ihrem Blick sehen, dass sie
meine Aussage absurder fand als die Aussage der Influencerin.
Mich beschlich das Gefühl, innerhalb von Sekunden steinalt gewor-
den zu sein. Ich erzählte offenbar von einem anderen Jahrhundert.
Als es für junge Menschen irgendwie angesagt war, die ganze Woche
über an der eigenen körperlichen Selbstzerstörung zu arbeiten. Als
die Nacht alles galt und der Morgen nichts. Für Luna klingt das
nicht nach einer coolen Welt, sondern nach einer bescheuerten Ein-
stellung, in der man das Wertvollste zerstört, was man das ganze
Leben lang behalten wird: den eigenen Körper.
Dabei sieht Lunas Morgen in der Regel ganz ähnlich aus wie meiner,
als ich noch jung war. Meistens schafft sie es nicht, rechtzeitig auf-
zustehen, um Yoga oder Me di ta tion oder sonst etwas Vernünftiges
und Wertvolles zu machen. Der Unterschied ist aber, dass all diese
You Tube- Videos einem das Gefühl geben, es wäre besser, es anders
zu machen, den Tag bewusst zu beginnen, mit Morgenritualen.
»Manchmal sehe ich diese perfekten Menschen und habe gleich das
Gefühl, das Leben nicht im Griff zu haben«, sagte Luna. »Als ob
man mit 19 Jahren schon das Leben verpfuscht haben kann.« Aber
gleichzeitig würden sie solche Filmchen motivieren, wenigstens ein
bisschen davon umzusetzen, weil sie einem eine Vorstellung davon
geben, wie man gerne wäre.
»Du könntest ja auch mal früher aufstehen«, sagte Luna. Da hat sie
natürlich recht. Einerseits. Aber wenn man schon mal Kinder groß-
gezogen hat, dann hat man für den Rest seines Lebens genügend
Morgenroutinen gehabt.

Prüfers Töchter MEINE 19-JÄHRIGE

Illustration Aline Zalko

Luna ist 19 Jahre alt. Ihr Vater Tillmann Prüfer schreibt
hier im wöchentlichen Wechsel über sie und seine
anderen drei Töchter im Alter von 14, 12 und 5 Jahren

» Du könntest mal


früher aufstehen«

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