Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

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Herr Millepied, Sie konnten gerade mal
laufen, als Sie mit dem Tanzen anfingen.


Wie kam es dazu?
Ich bin im Senegal aufgewachsen, mein Va-


ter war dort Leichtathletik-Trainer, meine
Mutter Tanzlehrerin. Im Senegal gehört


Musik zum Leben dazu, und Rhythmus
bestimmt den Tanz, daher rührt mein na-


türliches Verhältnis zum Tanz.
Im Alter von fünf Jahren zogen Sie


mit Ihren Eltern aus dem Senegal nach
Frankreich. Wie war das für Sie?


Es war nicht leicht für mich, weil meine
Eltern sich scheiden ließen. Ich lebte dann


mit meiner Mutter in Bordeaux, einer
eher kleinen und ruhigen Stadt. Als ich 13


war, besuchte ich das Konservatorium für
Tanz in Lyon. Es war aufregend, von zu


Hause weg zu sein. Ein Jahr später wur-
de ich an der School of American Ballet


in New York angenommen und hatte die
Chance, mit dem New York City Ballet zu


tanzen und in New York zu leben. Ich war
erst 14 Jahre alt und habe nicht wirklich


viel begriffen, aber ich war begeistert. Der
Tanz dort hatte ein so hohes Niveau, es


war der totale Wahnsinn. Ich wollte gerne
für ein Jahr dort bleiben, aber ich musste


nach Frankreich zurück und lernte dort
mit meinem Lehrer weiter. Und das war


gut für mich.
Wieso gingen Sie aus New York fort?


Mein Lehrer in Frankreich meinte, ich
sei viel zu jung, außerdem mussten wir


ein Schulgeld von 10.000 Dollar berap-
pen, das konnte meine Mutter sich nicht


leisten. Meine Großeltern erkannten zum
Glück, welche Chancen New York für


mich bot, und übernahmen die Gebühren,
so kam ich meinem Ziel etwas näher und


bin ein Jahr später erneut nach New York
gegangen. Es war immer mein Traum ge-


wesen, in New York zu tanzen.
Sie waren so jung, fühlten Sie sich nicht


einsam in New York?
Nein. Meine Familie war auseinander-


gebrochen. Meine Mutter nahm sich
meiner an, sie hatte Vertrauen in mich.


Sie ließ mich nach New York ziehen, ob-
wohl es sicher sehr hart für sie war. Mein


Vater war nie da für mich, er hat mich nie


gefördert. Er lebte am anderen Ende der
Welt, ich hatte nie wirklich einen Vater,
er war einfach weg. Ich war zu der Zeit
reifer als die meisten anderen Kinder und
beschloss: Ich muss mir selbst einen Men-
tor suchen. Ich war wie ein Schwamm,
der alles in sich aufsog, und ich fand zahl-
reiche Lehrer, die mir viel bedeuteten. All
die Jahre hatte ich immer jemanden an
meiner Seite, zumeist ältere Männer, mit
denen ich mich anfreundete.
Sind Sie denn heute auch ein Mentor
für jemanden?
Ich habe meine eigenen Regeln, wie ich
meine Tänzer führe, da bin ich etwas
speziell. Ich will überhaupt nicht so eine
enge Beziehung zu den Tänzern. Das ist
aus meiner Sicht ungesund. Tänzer su-
chen eine Ergebenheit und Bewunderung.
Wenn sie in dir so eine Art Guru sehen,
verlieren sie ihre Selbstständigkeit, ihre
Freiheit und sogar manchmal ihre Iden-
tität. Das gefällt mir überhaupt nicht.

Sie werden in den Medien auf eine Stufe
mit Mikhail Baryshnikov gestellt. Aber
worum geht es Ihnen selbst?
Überall hat es die Kultur schwer, die Men-
schen lesen weniger, junge Leute lassen ihr
Leben von den sozialen Medien beeinflus-
sen. Ich suche die anspruchsvolle Ebene,
das Wesentliche, Vielschichtige und Tief-
gründige, das mich zum Denken anspornt.
Mit dem L.A. Dance Project kann ich zei-
gen, wie ich denke, und meine Haltung
zur Gesellschaft reflektieren.
Haben Sie jemals eine schwere Krise
durchlebt?
Oh ja, als Direktor des Balletts der Pariser
Oper. Es war die schwierigste Lebensphase,
die ich je hatte. Die Zeit war für mich un-
glaublich hart, und darum bin ich auch
gegangen. Ich fühlte mich dermaßen weit
von meiner Kunst entfernt, es gab so viel
Ärger, Unbehagen und Schmerz. Es war ein
richtig brutales Umfeld einer starren In sti-
tu tion mit rigiden Strukturen. Ich hatte
nicht viel zu sagen, ich war dem Direktor
der Oper untergeordnet. Ich wusste, es
würde kein gutes Ende nehmen, wenn ich
immer nur alles hinnehmen, mich beugen
und bleiben würde, um nur das Beste da-
raus zu machen. Das hätte bedeutet, ein
völlig anderer zu werden. Mir wurde klar:
Das ist nicht der Job, den ich wollte. Das
L.A. Dance Project zu leiten ist etwas völlig
anderes, es ist alles lockerer und kreativer,
das ist so viel besser für mich.
Wie haben Sie sich während dieser Krise
gefühlt?
Ich war emotional ausgebrannt. Ich bin ein
sensibler, emotionaler Typ. Um an einer
In sti tu tion wie der Pariser Oper erfolg-
reich zu sein, musst du wie ein Politiker
ticken, die vielen Reibereien und Aggres-
sionen müssen dich kaltlassen. Natürlich
gab es auch dort gute Zeiten. Ich mochte
viele Aufträge und hatte die Möglichkeit,
mit tollen Künstlern zusammenzuarbeiten,
die ich für zwei oder drei Jahre engagieren
konnte. Doch alles in allem war ich nicht
mehr ich selbst. Die Entscheidung zu ge-
hen war ehrlich gesagt meine Rettung. Foto

imago/Starface

Als Direktor des Pariser Balletts hatte der Tänzer das Gefühl, sich selbst zu verleugnen


Im nächsten Heft: Wolfgang Kubicki erzählt, wie ihn vor Jahren der Lebensmut verließ.


Und die Deutschlandkarte zeigt, in welchen Gegenden es der Butter und der Apfelmus heißt


Das war meine Rettung BENJAMIN MILLEPIED


Benjamin Millepied, 42, tanzte
ab 2 0 02 als erster Solist des New York
City Ballet. 2 014 bis 2 016 leitete
er das Ballett der Pariser Oper.
Mit dem L.A. Dance Project ist er jetzt
in Wolfsburg zu Gast. Er ist mit
der Schauspielerin Natalie Portman
verheiratet und lebt in Los Angeles

Das Gespräch führte Louis Lewitan
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