Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1
Liebe und Frieden unter freiem Himmel: Besucher des legendären Woodstock-Festivals vor 50 Jahren

Foto: Elliott Landy/Magnum Photos/Agentur Focus

Musik


ohne Zäune


In Woodstock hielt die rebellische Jugend der Sechzigerjahre


ihre Generalversammlung ab – und öffnete den Pop für einen


musikalischen Migrationsschub, der bis heute anhält VON STEFAN HENTZ


D


as ausladende Gelände, sanft
gewellt und begrenzt von
Wäldern, das sich zu einer
Art natürlichem Amphithea­
ter senkt. Die Wiese, zu­
nächst noch grün, saftig und
menschenleer, dann immer
voller, bis nichts mehr von ihr zu erkennen ist. Nur
noch Menschen, Tausende, Hundert tausende, und
schließlich, nachdem der Regen sein Werk getan
hat, Schlamm, Decken, Kleidungsstücke, Planen,
Abfall. Man hat die Bilder zigfach gesehen. Hat die
Fans gesehen, die Besucherinnen und Besucher,
die mit leuchtenden Gesichtern zum Festival­
gelände gepilgert sind, kilometerweit zu Fuß, weil
mit dem Auto schon lange kein Durch kommen
mehr war und die Zufahrtswege sich in den viel­
leicht größten Parkplatz aller Zeiten verwandelt
hatten. Später all die Körper, die im See baden,
nackt, oder im Schlamm.
Auch die Musiker und Musikerinnen hat man
gesehen. Richie Havens, den afroamerikanischen
Bänkelsänger im sengenden Sonnenlicht in der
Eksta se seiner improvisierten Ver sion des Gospel­
Klassikers Some times I Feel Like a Motherless Child,
die er aus einer schier endlosen Wiederholung
dieses einen entscheidenden Wortes ent wickelt:
freedom. Joan Baez, die Jeanne d’Arc des gewerk­
schaftlich orien tier ten Protestsongs, schwanger und
mit gekürzten Haaren im nächt lichen Scheinwerfer­
licht. Canned Heat, Cree dence Clear water Revival,
Jefferson Air plane, schließlich Jimi Hendrix, der im
Abschlusskonzert am schon fortgeschrittenen
Montagvormittag in einer Art von postapokalyp­
tischer Katharsis vor nur noch wenigen aufmerk­
samen Zuschauern die Nationalhymne The Star-
Spangled Banner zerschreddert und in den Feedbacks
seiner Gitarre zu einer Allegorie auf die Feuerkraft
moderner Armeen umschmilzt.
Ja, man hat das alles gesehen, und doch bleiben
die Bilder auch in der Wiederholung lebendig.
Woodstock – antikommerziell und kommerziell
zugleich, ein Erlebnis und eine Zumutung in einem,
dieses große coming together und falling apart – for­
dert auch ein halbes Jahrhundert danach jeden he­
raus, der sich einen Reim machen will auf diese drei
Tage des friedlichen Exzesses zwischen dem 15. und
dem 17. August 1969, als die große Rinderweide
des Milchfarmers Max Yasgur bei Bethel im länd li­
chen Staat New York zum Schauplatz eines Festivals
wurde, wie man es zuvor nicht kannte. Seinen Na­
men verdankt es im Übrigen der wiederbelebten
Künstlerkolonie 70 Kilometer weiter nördlich, wo
das Ganze ursprünglich stattfinden sollte. Doch An­
wohner verhinderten das Festival in ihrem Ort, und
auch in Wallkill, dem Ausweichstandort, gab es »be­
sorgte Bürger«. Schließlich kam das Grundstück bei
Bethel ins Spiel. Nun musste es schnell gehen: Nur ein
Monat blieb noch, um die Anlagen aufzubauen – da
langte es nicht mehr für einen Zaun, und damit war
die Finanzplanung Makulatur, da sich das Eintritts­
geld nun nicht mehr abkassieren ließ.

Woodstock Music & Art Fair presents an Aquarius
Exhibition – 3 Days of Peace & Music, wie das Fes­
tival mit vollem Namen hieß, war ein Großereig­
nis, auf dem sich eindrucksvoll die neue, sich von
der Erwachsenenwelt abschottende Jugendkultur
zeigte, wie sie erst in den beiden Jahrzehnten nach
dem Zweiten Weltkrieg hatte entstehen können.
Ein steter Zuwachs an Wohlstand und Freizeit
und die zunehmende Mobilität hatten den Ju­
gendlichen als neuen sozialen Typus hervor­
gebracht, mit dem Bedürfnis nach Selbstausdruck,
Konsum und Zukunft. Und in vielen – wenn
nicht allen – Ländern der industrialisierten Welt
wurde die Jugend rebellisch, ließ die Haare wach­
sen oder schnitt sie ab, entgegen den überlieferten
Gen der­ Codes, setzte sich auf Motorräder oder in

Autos, drehte das Radio auf, feierte nach der Erfin­
dung der Antibabypille eine neue sexuelle Frei­
zügig keit und gefiel sich darin, ihren Einspruch
gegen die eingefahrenen Regeln der durchver­
walteten Welt der Erwachsenen musikalisch und
modisch in Szene zu setzen.
Zugleich wurde diese Jugend zu einer neuen
Zielgruppe, mit Konsumbedürfnissen, deren Reiz
weit über das Jugendalter hinausstrahlte. Bis 1969
waren die Musik, die Frisuren und die lässigen,
farbenfrohen Klamotten der Aufbegehrenden
längst in den Alltag weiter Kreise der Bevölkerung
eingesickert. Auf Bildern, die die Ankunft der
Festivalgäste dokumentieren, sind die neugierigen
Dorfbewohner am Straßenrand nicht viel anders
gekleidet als die Besucher.
Zusätzliche Schärfe hatte die jugendliche
Rebellion bekommen, als die USA begannen,
Rekruten für den Viet nam krieg einzuziehen, und
damit den männlichen Teil der Jugend dem Ge­
fühl aussetzten, jederzeit zum gemeinsamen Ster­
ben und Töten einberufen werden zu können.
1968 dann zerstörten die politischen Morde an
dem afroamerikanischen Prediger und Bürger­
rechtler Martin Luther King und dem liberalen
Präsidentschaftsbewerber Robert Kennedy den
letzten Glauben an einen Wandel zum Besseren
durch eine gewandelte Politik.
Bei Woodstock feierte diese rebellische US­
Jugend im Sommer 1969 ihre Generalversammlung
und nahm zugleich Abschied von gemeinsamen
politischen Ambitionen, die über die spontane
Selbstbefreiung im Augenblick hinauswiesen – das
im Musical Hair beschworene age of aquarius, das
Zeitalter des Wassermanns, war angebrochen. Und
alle waren sie gekommen, die Studenten und Beat­
niks, die sanften Folkies mit ihrer Nähe zur Bürger­
rechtsbewegung und die Aussteiger aus den zahl­
reichen Landkommunen, die irgendwo in den
Weiten des Landes ihrem Traum vom authentischen
Leben in Einklang mit der Natur nachspürten.
Scharen von Männern und Frauen, friedfertig und
harmlos – und fast alle, das fällt heute mehr auf
denn je: weiß. Die Blumenkinder von Haight­
Ash bury waren da und die LSD­berauschten Acid­
Heads mit ihrem tune in, turn on and drop out. Auch
die Freaks und die Yippies reisten an, die an thea­
tralischen Aktionen interessierten Polit­Aktivisten,
die sich im Jahr zuvor beim Parteitag der Demo­
kraten in Chicago nächtelange Straßenschlachten
mit der Polizei geliefert hatten.
Auf dem Festival war unmittelbarer Polit­
Aktivismus unerwünscht. Deutlich führte dies der
Auftritt von The Who vor Augen. Spät, sehr spät
in der Nacht auf Sonntag war die Bühne endlich
frei für die bekanntermaßen aggressive britische
Rockband, die am Mittag mit dem Helikopter ein­
geflogen worden war. Als sie um fünf Uhr morgens
endlich spielen konnten und Pete Towns hend, der
Gitarrist, kurz zu seinem Verstärker trat, um ir­
gendetwas nachzuregeln, stürmte der Polit­Aktivist
und Marcuse­Schüler Abbie Hoffman, einer der
Mitgründer der Youth International Party, auf die
Bühne und setzte zu einer Rede gegen die In­
haftierung John Sinclairs an, des Gründers der
linken White Panther Party und Managers der
Proto­Punkband MC5 aus Chicago. Auf Ton­
mitschnitten ist zu hören, wie Towns hend Hoff­
man anfährt: »Fuck off my fucking stage!« Zustim­
mende Geräusche aus dem Publikum. Dann ein
dumpfer Schlag, als fege Towns hend den Agitator
mit der Gitarre von der Bühne. Die Zuschauer
johlen. Kunst schlägt Politik.
Dass das Festival ansonsten friedlich blieb, ver­
stand sich nicht von selbst – schon gar nicht ange­
sichts der Zustände auf dem Gelände. Mit höchs­
tens 80.000 Besuchern hatten die Veranstalter ge­
rechnet, am Ende waren es 350.00 bis 500.
junge Frauen und Männer. Viel zu viele für die
hastig geschaffene Infrastruktur, für die sanitären
Anlagen, für die vorhandenen Seen, die nicht nur
zum Baden und Waschen genutzt wurden, sondern
auch als Kloake; viel zu viele, als dass jeder ein tro­
ckenes Plätzchen gefunden hätte, um zu schlafen
oder auszuruhen. Gerade auch im Kontrast zu an­
deren großen Festivals in Monterey oder Miami,
wo es regelmäßig zu gewaltsamen Aus ein an der ­
setzun gen zwischen Festivalgästen und Security­
kräften gekommen war, zählt es zu den großen
Mysterien von Wood stock, wie sich unter dem
enormen Druck der Verhältnisse – und möglicher­
weise auch der sedierenden Wirkung von Schlaf­
entzug und den offenbar reichlich vorhandenen
Drogen – ein archaisches Gefühl von Zusammen­
gehörigkeit einstellen konnte, das Ag gres sion und
Gewalt unter seinem Gewicht erstickte. Nachdem
alle Verheerungen auf dem Festivalgelände beseitigt
waren, wurde »Wood stock« zu einer global funk­

tionierenden Umsatzmaschine, die ihre mythen­
stiftende Energie aus dem Bilder gewitter zog, das
durch das Zusammentreffen von jugendkultureller
Selbstfeier und professioneller Vermarktung ent­
facht wurde. Die eigentlichen Veranstalter, die bei­
den jungen New Yorker Michael Lang und Artie
Kornfeld, waren in diesem Moment schon aus dem
Geschäft: Nach dem Festival standen sie mit ihrer
Firma Wood stock Inc. vor der Pleite. Die beiden
Nachwuchs­Geschäfte macher Joel Rosenman und
John P. Roberts, ihre Partner bei Woodstock Inc.,
sprangen in die Bresche: Sie glichen das Defizit in
Höhe von 1,3 Millionen Dollar aus, um die Insol­
venz abzuwenden, und drängten Lang und Korn­
feld heraus. Erst 1980 gelang es Lang, sich wieder
in die Firma einzukaufen, die sich als hochprofita­
bel erwiesen hatte – nicht zuletzt dank der fil­
mischen Aufbereitung des Festivals für die Nicht­
dabeigewesenen.
Eine 100­köpfige Filmcrew hatte das Ereignis
dokumentiert, von der Völkerwanderung aus allen
Teilen der USA nach Bethel über die Aufbau­
arbeiten bis zum Festival selbst. Mehr als 200 Kilo­
meter Filmstreifen – 100 Stunden Bildmaterial –
sind so zusammengekommen, die später zu meh­
reren Dokumentationen verarbeitet wurden, wo­
bei Wood stock, der im März 1970 erschienene und
ein Jahr später mit einem Oscar prämierte drei­
stündige Konzertfilm des Kameramanns und
Filmregisseurs Michael Wad leigh, die stärkste
Wirkung hatte. Die Do ku men ta tion, an der auch
der junge Martin Scorsese mitgearbeitet hatte, de­
finierte gleichsam, was Wood stock war. Nur wer in
dem Film auftauchte – und auf der 3­LP­Box
Wood stock: Music from the Original Sound track and
More, die bald zur Grundausstattung jedes halb­
wegs gut sortierten Hippie­Haushalts gehörte –,
hatte fortan teil am Mythos.

Und am kommerziellen Erfolg. Die weltweite
Auswertung der Lizenzen und Veröffentlichungs­
rechte machte Wood stock zum Big Business. Al­
lein in den USA spielte der Film 50 Millionen
Dollar ein. Die Firma Wood stock Inc. war daran
mit 20 Millionen beteiligt, den Rest teilten sich
der Regisseur Michael Wad leigh, der Produzent
Bob Mau rice und der Film­Gigant Warner Bros.
Vom Sound track profitierte in erster Linie Ahmet
Erte gun mit seiner Firma Atlantic Records, die
ebenfalls zum Warner­Imperium gehörte.
Auch musikästhetisch liefen in Wood stock
mehrere Entwicklungstendenzen, die der Popkul­
tur von jeher immanent sind, zusammen.
Als kommerzielle Musik war Pop von Anfang
an das Ergebnis eines industriellen Produktions­
prozesses. Kom po si tion, Text und Einspielung
werden arbeitsteilig zu einem standardisierten
Ganzen gefügt, das die jeweiligen Frontfrauen
und ­männer möglichst so darzubieten haben,
dass der serielle Charakter unsichtbar wird. Das
gilt auch für viele Künstlerinnen und Künstler, die
in Wood stock auf der Bühne standen und halfen,
die Popkultur der Sechzigerjahre zu einem Mega­
Event zu machen.
Zugleich trägt die moderne Popmusik aber
auch Spuren älterer Stilformen wie des Blues und
des Gospel in sich, die technische Kriterien trans­
zendieren und eine ideelle Gemeinschaft zwi­
schen Musikern und Hörern erzeugen. Diesen
berühmten Funken kann man in den überliefer­
ten Filmen von Wood stock immer wieder über­
springen sehen – beim Gesang von Richie
Havens, bei den lateinamerikanischen Rhythmen
von Santana, den Funk grooves von Sly & the
Family Stone und natürlich in der entgrenzten
Per for mance von Jimi Hendrix, die Rockmusik
in Kunst verwandelte.

Woodstock beförderte beides gleichermaßen –
die Formatierung wie die Transzendenz. Und
zaghaft noch, doch unüberhörbar und unüber­
sehbar, öffnete sich in diesen drei legendären Ta­
gen die Welt des großen Pop für den Einfluss
neuer Klänge. Das Festival machte den Weg frei
für eine immer weitere Auffächerung der Spiel­
arten und Einflüsse und damit auch für eine eth­
nische Diversifizierung der Musikerinnen und
Musiker wie der Hörerinnen und Hörer. Latin
Rock und die schwarze Musik, die sonst nur in
der Parallelwelt der segregierten R&B­Charts
oder im streng gebügelten Sonntagsstaat à la
Motown stattfand, traten nun in einer ausschwei­
fenden, hemmungslos verschwitzten Ver sion auf
die Bühne. Selbst den Jazz ließ Wood stock nicht
unberührt: Wenige Tage nach der Music & Art
Fair spielte Miles Davis sein richtungsweisendes
Fusion­Jazz­ Album Bitches Brew ein, deutlich in­
spiriert von dem räudigen Soundgebräu, das auch
beim Festival zu hören war. Die Tür war auf­
gestoßen. Die bis dahin noch immer sehr domi­
nant hellhäutige Welt der Rock­ und Popmusik
erlebte einen stimulierenden Mi gra tions schub,
der bis heute anhält.
Der Hippie­Traum von einer anderen Welt
und dem Anbruch des Wassermann­Zeitalters ist
nach den Festivaltagen bis auf Weiteres ver­
stummt. Die ihn in Wood stock mitgeträumt
haben, aber werden ihn nicht vergessen. Allen
anderen bleibt nur die Ahnung, etwas Unwieder­
bringliches verpasst zu haben. Und die Mahnung
Joni Mitchells, die zwar nicht dabei war, mit
Wood stock jedoch einen der schönsten Songs zum
Thema geschrieben hat. »I don’t know who I am«,
heißt es darin, »but you know, life is for learning« –
ich weiß nicht, wer ich bin, aber du weißt ja: Das
Leben ist zum Lernen da.

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  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 33


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