Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 33


WIRTSCHAFT 17

Das


erstarrte


Land


P


lötzlich ist der ton wieder sor-
genvoll, wenn es um Deutsch-
land geht. gerade war das Land
noch die letzte Rettung der west-
lichen Welt: mit einer Kanzlerin,
die Wandel aller Art (von der
Atomwende bis zur Flüchtlings-
welle) nicht verdammte, sondern irgendwie
schaffte; mit Bürgern, die globalisierung und
Weltläufigkeit verteidigten, und mit einer boo-
menden Industrie, die der Wirtschaft ein deka-
denlanges Wachstum bescherte.
Jetzt ist alles anders.
Da ist zum Beispiel Hyun song shin, Chef-
volkswirt der Bank für Internationalen Zahlungs-
ausgleich in Basel und Vordenker. Als er jüngst eine
Rede hielt zur Frage »Was steckt hinter der aktuel-
len Abkühlung der Weltwirtschaft?«, begann er mit
der Industrie – und mit Deutschland. Das stehe
beim Niedergang »an vorderster Front«.
Oder der Internationale Währungsfonds. Er hat
Deutschland heruntergestuft, erwartet in diesem
Jahr nur noch 0,7 Prozent Wachstum. Damit
würde in Europa einzig das überschuldete Italien
langsamer wachsen.
Oder der Präsident der Europäischen Zentral-
bank. Vor zwei Wochen nach der Lage der euro-
päischen Wirtschaft gefragt, erwähnte er neben
Italien auch Deutschland, was selten geschieht.
Mario Draghi sprach von einem »idiosynkratischen
schock«, der die deutsche Industrie treffe, sprich:
von einer eigenartigen, noch begrenzten Krise.
Es ist Zeit, sich sorgen zu machen um das Land.
und während die einen noch rätseln, wie das so
plötzlich kommen konnte, wollen die anderen die
gründe schon außerhalb des Landes gefunden
haben. Donald trump, der Brexit, China, der
Handelskrieg – das alles wird gerufen. Natürlich
reagiert der Exportweltmeister Deutschland be-
sonders empfindlich auf solche globalen störun-
gen. und doch suggerieren solche thesen, dass die
alte geschichte weiter gilt: Deutschland, bären-
stark, ein Vorbild für die Welt – nur von außen
wird es angegriffen.

gabriel Felbermayr, der das Institut für Welt-
wirtschaft leitet, glaubt nicht daran. Er hat Model-
le entwickelt, die anhand von Wirtschaftsdaten die
Folgen von trumps Zollpolitik auf Deutschland
messen. Felbermayr sagt: »Maximal ein Viertel des
Wachstumseinbruchs, den Deutschland gerade
erlebt, kann mit Donald trump und den Handels-
streitigkeiten an den Weltmärkten begründet
werden.« Der Rest komme von innen.
Wer also wissen will, was wirklich los ist, muss
das Land selbst in den Blick nehmen.
Deutschland im Jahr 2019 zu erkunden ist wie
eine sommertour auf einem Eisberg, der im Oze-
an treibt. gigantisch liegt er da, das Eis glitzert im
sonnenlicht. Doch als Besucher sollte man besser
tauchgerät dabeihaben. Denn unter dem kleinen
teil, der sichtbar aus dem Wasser ragt, lauern die
untiefen. Es lohnt sich, hinabzutauchen. An der
Oberfläche ist Deutschland 2019 ein Erfolgsland.
Nach neun guten Jahren ist die Arbeitslosigkeit
rekordniedrig, die Menschen sind zufrieden. Doch
die guten Jahre haben nicht nur Wohlstand erzeugt,
sondern auch selbstzufriedenheit und untätigkeit
von Politik und Konzernen. unter der Oberfläche
ist das Land erstarrt. Es fehlt die Zuversicht.
Ein guter Indikator für Zuversicht sind die In-
vestitionen. Normalerweise sollten Jahre des
Wachstums dazu führen, dass die unternehmen
begeistert sind. Das geld sollte ins Land fließen,
standorte gebaut, Produktionskapazitäten erweitert
werden. In einem technologieland sollten Firmen
sich auf neue geschäftsfelder wagen, Entdeckun-
gen auf den Markt bringen. Innovation braucht
Investition. und, ja, die unternehmen haben in
Deutschland zuletzt wieder mehr investiert. Doch
das ist nicht zu vergleichen mit früheren Boom-
phasen wie etwa Ende der 1970er-Jahre, Anfang
der 1990er oder im Jahr 2000.
»Wir waren zu erfolgreich«, diagnostiziert der
Düsseldorfer Ökonom Jens südekum. »Man dach-
te: bloß nichts ändern.« Das galt für die Industrie,
wo etwa die Autohersteller zu spät auf neue An-
triebe setzten. und das galt für die Politik, die mit
themen wie der Mütterrente und der Rente mit

63 darauf setzte, es den Leuten gemütlich zu ma-
chen. Kurz: Die Wirtschaft lief zwar gut, trotzdem
war keiner bereit, das geld in die Zukunft zu in-
vestieren. Das hat auch mit der Erwartung zu tun,
dass die gesellschaft schon bald stark altert.
»Deutschland hat sich gedanklich in eine Art
Altersheim transformiert«, sagt südekum. Andere
Länder gelten als jünger, innovativer und beweg-
licher. »Wenn das die geisteshaltung ist, überrascht
es nicht, wenn wir bald schrumpfen.«
Damit kann man sich abfinden und als Alters-
heim mit angeschlossener Werkbank langsam in
die ökonomische Bedeutungslosigkeit verschwin-
den: Deutschland als Labor der Degrowth-Bewe-
gung. Dann allerdings entstehen die interessanten
Arbeitsplätze der nächsten 20 Jahre anderswo, und
angesichts solcher Aussichten werden sogar Öko-

nomen pathetisch: »Das möchte ich meinen drei
Kindern wirklich nicht antun«, sagt Felbermayr.
Besser das Land geht es an. Nur wo anfangen?
Der erste große Vorteil im Jahr 2019 ist, dass es
dieses Mal, anders als etwa Anfang der 2000er-
Jahre, nicht um die sozialsysteme geht. Dieses Mal
gibt es die Chance, etwas zu tun, bevor die Arbeits-
losigkeit hochschießt und die systeme auf die
Probe stellt. Der zweite große Vorteil ist, dass es geht.
Deutschland ist nach Ansicht vieler unternehmer
und Ökonomen vor allem aus einem grund erstarrt:
weil die Politik stillsteht. Über Zukunfts fragen wird
geredet, geredet, geredet. ginge es nach den Reden,

wären wir vorn dabei. Aber es wird kaum entschie-
den, und wenn, dann zaghaft.
Beispiel Auto: Obwohl sich das Land spätestens
seit der Dieselkrise damit befasst, wie es weitergeht
mit der Mobilität, hat die Politik bislang beinahe
nichts entschieden. statt städte umzubauen, zu-
künftige trassen und stromtankstellen zu planen,
Anreize für Investitionen zu schaffen und ihr Ver-
hältnis zur Autoindustrie zu klären, auch rechtlich,
bleibt die Regierung mal vage und mal gestrig. so
versuchte das Verkehrsministerium allen Ernstes,
eine Ausländermaut, die es in der Form in anderen
Ländern seit zig Jahren gibt, als Zukunft zu ver-
kaufen. stattdessen hätte man sich wenigstens eine
smarte Verkehrssteuerung überlegen können.
Beispiel Klima: In diesem sommer diskutiert
das Land über eine CO₂-steuer. Ökonomen be-
grüßen sie eigentlich. Nur glauben sie nicht daran,
dass die Politik sie konsequent umsetzt und dafür
beispielsweise andere Klimagesetze abschafft. sie
glauben auch nicht, dass die steuer so hoch sein
wird, dass sich dadurch wirklich das Verhalten
ändert. Dabei könnte genau das dazu führen, dass
das Land umwelttechnologisch voranschreitet und
ein Vorbild für andere wird. Doch statt diese Chan-
ce zu nutzen, ergehe sich Deutschland lieber in
einem »Bußprediger-Wettbewerb«, sagt Felbermayr.
»Kein Fleisch mehr essen, nicht mehr in den urlaub
fliegen. Wer schafft es, dass wir mehr leiden an-
gesichts der sünden der Vergangenheit?«, so be-
schreibt er die Debatte. »Wir müssen damit auf-
hören und endlich die Dinge angehen.«
Beispiel Digitalisierung: In Amerika entstehen
die neuen Ideen, in China werden sie als Erstes
angewendet. In Deutschland regiert der Daten-
schutz, der doch von neuer technik begleitet
werden könnte. Es gäbe einige Bereiche, in denen
deutsche Firmen noch etwas bewegen können, etwa
den der künstlichen Intelligenz in der Industrie.
Das kann man unterstützen. Dafür aber braucht
es eine echte Innovationspolitik. Die ist riskant,
teuer – und mithin ungemütlich. Der einzige
wichtige deutsche Politiker, der je ernsthaft darüber
gesprochen hat – Wirtschaftsminister Peter Alt-

maier –, hat diese Idee in einem Papier versteckt,
das ansonsten abstruse Vorschläge enthält: das
schützen von großkonzernen etwa. Das klingt
nach Konservierung statt nach Fortschritt.
Was nun? unternehmenssteuern senken oder
ein staatliches Investitionsprogramm starten? Das
sind die derzeit dominanten Ideen, um die maximal
ideologisch gestritten wird. Dabei finden unter-
nehmer etwas anderes viel dringender: Berlin
müsse rasch ein paar politische Entscheidungen
treffen zu Digitalisierung, Klima, Energie. Ent-
scheidungen, die Firmen helfen zu planen und die
Zuversicht vermitteln.
Die umstrittenen Ideen kommen dazu. und
dabei kommt es vor allem darauf an, wie man es
macht. In Amerika haben niedrigere unter-
nehmenssteuern vor allem dazu geführt, dass die
Firmen mit dem geld ihre eigenen Aktien zurück-
kauften. Das bringt dem Land gar nichts. Deshalb
schlagen Ökonomen rechts wie links etwas anderes
vor: nämlich die Abschreibemöglichkeiten für In-
vestitionen zu verbessern, begrenzt auf vielleicht
fünf Jahre. Dann bekommen nur die Firmen etwas,
die etwas aufbauen.
Es spricht auch nichts dagegen, dass der staat
wieder mehr investiert. Er hat sich zuletzt zurück-
gehalten, was übrigens nicht vorrangig an der
schuldenbremse lag. sondern auch daran, dass man
dachte: Läuft doch. Wenn die Wirtschaft wirklich
einbrechen sollte, gibt es nun finanziellen spiel-
raum nach Jahren ausgeglichener Haushalte.
Wichtig ist aber, dass, wenn es so weit kommt, ein
Plan da ist – mit Projekten, die mit der Zukunft
des Landes zu tun haben: schulen, schienen,
stromtrassen, Innovation.
und was das Bild von Deutschland als Alters-
heim angeht: Da bietet Jens südekum einen Licht-
blick. Die demografische Entwicklung ist weniger
dramatisch als einst befürchtet. Das liegt auch an
der Einwanderung. Neben den Flüchtlingen sind
viele gut ausgebildete Arbeitskräfte aus der Eu ge-
kommen. und seit einigen Jahren werden außer-
dem wieder deutlich mehr Kinder geboren.
Immerhin ein Anfang.

Deutschlands


Wirtschaft stockt. Das


wird gern auf Donald


trump geschoben.


Doch die Wahrheit liegt


unter der Oberfläche


VON LISA NIENHAUS


Grundeinkommen:


Drei Leser sind dafür,


drei dagegen. Ihre


Argumente auf ...


seite 20

Krisen der Welt


Die USA und China im
Wirtschaftskrieg: Seite 18
Was hinter dem Zoff an der
straße von Hormus steckt: Seite 18

Illustration: Mart Klein & Miriam Migliazzi für DIE ZEIT; ZEIT-GRAFIK/Quellen: Deutsche Post, Ernst&Young, IWF, Measuring Economic Policy Uncertainty, Statistisches Bundesamt, Weltbank

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Neun gute Jahre


Deutschlands Wirtschaftswachstum
zwischen 2008 und 2018 in Prozent

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Punkte Trend

Und nun abgehängt


Prognose des Wirtschaftswachstums
2019 verschiedener europäischer Länder

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1970 1980 199 0 2000 2010 18

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Deutschland
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Punkte

Wenig Zuversicht


Deutschlands Bruttoinvestitionen in
Prozent des BIP seit 1970

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1970 1980 199 0 2000 2010 18

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2008200920102011201220132014 2 015 201620172018

2,2 2,2 2,
1,7 1,

–5,

1,3 %
0,8 %

Frankreich

Italien 0,1 %

Griechenland 2,4 %

Niederlande 1,8 %

Spanien 2,1 %

Deutschland
Jan. 2008 Juli 2019

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200

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Punkte Trend

Mehr Angst


Der Index der wirtschaftspolitischen
unsicherheit steigt
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