Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

34 FEUILLETON 8. August 2019 DIE ZEIT No 33


Isenheimer Altar der Erbärmlichkeit, bei dem es auf
die Einzelwesen kaum ankommt.
Beide Aufführungen, Jugend ohne Gott und
Sommergäste, wirken wie Zeugnisse einer gesell­
schaft, der die geduld und die Zeit ausgehen:
Mit Nuancen wollen sie sich nicht aufhalten.
Was sie grob zeichnen, sollen wir selbst fein aus­
schraffieren. Denn der tiefere gehalt beider Auf­
führungen liegt in ihrer Zeugnishaftigkeit: Dies
sind Kunstprodukte von Menschen, die verstan­
den haben. Auch wenn nicht immer ganz klar ist,
was sie verstanden haben, ist eins völlig offen­
sichtlich: sie legen es darauf an, dass wir so nicht
weitermachen. sie wissen, was ein falsches Leben
ist. und damit wir die Fehler auch sehen, bedie­

nen sie sich des Mittels der Kom ple xi täts re duk­
tion – ungefähr so, wie es die suchbilder nach
dem Motto »Finde den Fehler« für Vorschulkin­
der tun: Das Falsche ist schnell zu erkennen, und
alle Figuren sind von der Falschheit vergiftet, sie
sind selbst Fälschungen.
Die Regisseure thomas Ostermeier und
Evgeny titov haben den glauben, sie müssten
uns ein Verhalten nur zeigen, um es abzustellen.
Ihre theaterfiguren sind wie erstarrt im Harz
eines Präparators, schon verloren, wenn sie das
erste Mal auftreten. Hoffnung gibt es für sie nicht,
und das oberste Recht aller Bühnenwesen, das
grundrecht auf unfertigkeit und bewegliche Wi­
dersprüchlichkeit, die Hoffnung aufs Überrascht­
werden (vor allem durch sich selbst), scheint für
sie nicht zu gelten. Im Bestreben, uns zum Wider­
stand gegen die Verhältnisse aufzurütteln, lassen
sie selbst allen Auflehnungswillen – und leider
auch Witz – vermissen. Diese Aufführungen
geben sich als Zeugnisse einer aufgeklärten Ver­
antwortungsethik, aber es fehlt ihnen das Ver­
antwortungsgefühl fürs einzelne Bühnenwesen.
Beide Inszenierungen sind so eindeutig, dass
man als Zuschauer früh abschaltet. sie sind un­
genau aus guter Absicht. Das macht sie im Inners­
ten fade. Denn sie wollen uns dazu bringen, beim
Anblick ihrer Figuren immerzu »genau« zu sagen.

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D


er sage nach versprach Dionysos, der
gott des Weines, einst König Midas,
dass er ihm jeden Wunsch erfülle.
Midas wünschte sich, es möge doch bitte alles zu
gold werden, was er berühre. Bald schon konnte
er nichts mehr essen und trinken, und Midas
erkannte, wie unheilvoll seine Macht war.
In der türkei nun wird seit Wochen darüber
debattiert, welches unheil die goldvorkom­
men im Land bergen. In der Nähe des antiken
troja und einer der schönsten Landschaften des
Landes hat die kanadische Firma Alamos gold
mittlerweile damit begonnen, gold abzubauen.
Jüngste Luftaufnahmen aus diesem Paradies
mit 283 Pflanzen­ und 117 Insektenarten do­
kumentieren furchtbare umweltzerstörungen.
Das Ida­gebirge, türkisch Kazdağları, gab
der Region früher Luft, Wasser und Leben.
Jetzt ist es mit gerodeten gipfeln eine Riesen­
baustelle von 600 Hektar.
umweltorganisationen erklären, statt der
genehmigten 45.000 Bäume seien 200.000 ab­
geholzt worden. Die lokale Bevölkerung, die
Kommune, umweltorganisationen und Künst­
ler leisten mit einer »Wasser­ und gewissens­
mahnwache« Widerstand, doch hinter dem
stacheldraht wird weiter abgeholzt. umwelt­
schützer beklagen, dass
schon bald das Ökosystem
und die gesundheit der
Anwohner massiv geschä­
digt sein könnten.
Zudem ist das Ida­
gebirge nur eines von
vielen Hundert Boden­
schatzlagern, für die son­
dierungen gestattet wur­
den. Für insgesamt 3500
Hektar wur den auch anderen nordamerikani­
schen unternehmen wie Newmont oder teck
Cominco genehmigungen erteilt.
Experten sagen: Die erteilten genehmi­
gungen brächten der Wirtschaft keinerlei
Vorteil, würden aber die umwelt in eine Hölle
verwandeln.
Neben der Rodung lösten auch die state­
ments von Alamos gold Proteste aus.
geschäftsführer John McCluskey begründete
gegenüber Bloomberg tV, warum seine Firma
in der türkei tätig sei: wegen der hohen Profit­
marge, der Regierungssubventionen und weil
die türken so toll steine transportieren könn­
ten. Laut McCluskey investierte die Firma in
den vergangenen neun Jahren rund 100 Mil­
lionen Dollar in der türkei. Mit dieser
»bescheidenen Investition« beutete sie bei den
ersten schürfungen rund drei Millionen unzen
gold (im Wert von über 4 Milliarden Dollar)
aus. Die Aussage des CEO, die türken eigneten
sich gut für den Abbau und transport von
steinen, wurde als »Lob des Ausbeuters«
empfunden.
Der Künstler Zülfü Livaneli ist seit zehn
Jahren unesco­sonderbotschafter, jetzt rief er
die Organisation zur Eilaktion auf: »Es handelt
sich um einen Angriff auf das materielle und
immaterielle Vermögen unserer Welt. An­
gesichts dieser Vernichtungsaktion gegen die
Bevölkerung des Ida­gebirges benötigen wir
Ihre Hilfe.«
2015 hatten die Einwohner in Cerattepe
am schwarzen Meer einen Prozess gegen um­
weltzerstörung gewonnen, die damals ganz le­
gal durch kanadische unternehmen betrieben
wurde. Nach dem urteil erteilte die Regierung
einer ihr nahestehenden Firma die Abbau­
genehmigung – es kam zu Konflikten zwischen
Bevölkerung und gendarmerie, sodass die
Armee eingreifen musste. Die Erdoğan­Medi­
en behaupteten damals, hinter den umwelt­
schützern steckten deutsche stiftungen. Er­
doğans these lautete: Deutschland, das über
einen großen teil der Weltgoldreserven ver­
füge, obwohl es selbst nichts davon fördere,
versuche, den Abbau des Edelmetalls in der
türkei zu verhindern.
Es ist lehrreich, zu sehen, wie Erdoğans
»nationalistische Reflexe« nun erlahmen, wenn
es um internationales Kapital und persönliche
Rendite geht ...
Die umweltschützer der türkei zeigen gro­
ßes Engagement für die Natur gegen raffgierige
in­ und ausländische Renditejäger. Daraus
ergibt sich die Erkenntnis: Das Bewusstsein für
den schutz der Natur muss sich ebenso globali­
sieren wie jene, die unsere Erde aus Profitgier
zerstören. sonst werden wir wie König Midas
erst dann begreifen, dass wir das abgebaute
gold nicht essen und trinken können, wenn
die Natur zerstört ist.


Aus dem türkischen von Sabine Adatepe

MEINE
TÜRKEI (152)

Aufstand der


Umweltschützer


In der türkei wird gegen goldabbau
protestiert. Für Erdoğan ist Profit
wichtiger als Natur VON CAN DÜNDAR

Can Dündar ist Chefredakteur der Internet­
plattform »Özgürüz«. Er schreibt für
uns wöchentlich über die Krise in der türkei

von ZEIT-A utorenkö nnenSieauch hören,donnerstags 7. 20 Uhr.

Filmkritiken


»Soll ich sagen, dass ich es war?«


Ändert euer Leben, das Theater zeigt euch, wie das geht: Bei den salzburger Festspielen inszeniert Thomas Ostermeier »Jugend


ohne gott« von Ödön von Horváth, und Evgeny titov fährt mit gorkis »sommergästen« in den untergang VON PETER KÜMMEL


D


er schauspieler Jörg Hart­
mann wirkt in gesellschaft
oft teilnahmslos, als werde
er durch seine Mitmen­
schen davon abgehalten,
dort zu sein, wo er am liebs­
ten wäre: allein und in
gedanken. seine Paraderolle ist der in die Enge
getriebene Mann, der unter Druck zu innerer
Freiheit findet.
Einer allein gegen die niederträchtige Mehrheit:
so hat Hartmann, der als Dortmunder Tatort-
Kommissar zu Ruhm gekommen ist, schon Arthur
schnitzlers Professor Bernhardi in thomas Oster­
meiers Berliner schaubühnen­Inszenierung gespielt


  • als einen über die Verrohung seiner umgebung
    nur milde verwunderten Mann, untröstlich, aber
    selbst von Katastrophen kaum zu überraschen.
    und so spielt er nun den Lehrer in Os ter­
    meiers salzburger thea ter adap tion von Ödön
    von Horváths Roman Jugend ohne Gott (1937).
    Er ist der anfangs ahnungslose, die Zusammen­
    hänge allmählich begreifende Mittelpunkt einer
    Verschwörung.
    Es geht in diesem stück um das umkippen
    der gesellschaft in den Faschismus, exemplarisch
    gezeigt anhand der geschehnisse an einer schule.
    Anfangs spricht Hartmanns Figur im Vertrauens­
    lehrerton von heute mit seinen ihm entglittenen
    schülern. Es ist dieser ton, der sagt: Eigentlich
    bin ich wie ihr. Kommt erst mal in mein Alter,
    dann wird alles leichter; wenn wir nur Ruhe
    bewahren und mit ein an der sprechen, lässt sich
    jeder Konflikt aus der Welt schaffen. Aber er
    glaubt selbst nicht, dass der Optimismus begrün­
    det ist – schon deshalb nicht, weil er sich selbst
    durchschaut. und beim Durchschauen findet er
    nicht viel, wovor er Respekt haben könnte. Der
    Lehrer weiß, dass er keinen Widerstand gegen die
    Faschisten leisten wird, denn seine Rente ist ihm
    wichtiger als seine selbstachtung. Deshalb bleibt
    er Lehrkraft an jener schule, die seine schüler zu
    soldaten erzieht. und wenn die Jungs kriegs­
    lüstern brüllen, hält er sich nur die Ohren zu.
    Je länger die Aufführung dauert, desto klarer
    wird, dass es die innere Welt des Lehrers, oder alt­
    modisch: seine gewissensnot, ist, die wir auf der
    dunklen Bühne sehen. Er durchlebt seine Erinne­
    rungen – in der unschuld eines spurenlesenden
    Ermittlers. Die geschehnisse des Romans stoßen
    ihm wie kleine schocks zu: mal in spielszenen, mal
    in Fieberträumen, die durch Video sichtbar werden.
    Abgesehen von Jörg Hartmann, der durchgehend
    den Lehrer spielt, sind alle anderen Darsteller in
    vielen wechselnden Rollen dafür zuständig, der


Hauptfigur zuzusetzen, sie mal duckmäuserisch,
mal tückisch­lemurenhaft zu umwimmeln. Das
Ensemble leistet dauernde Verwandlungsarbeit, die
vom Publikum gedanklich nachvollzogen werden
muss: Ach, der Pfarrer ist jetzt ein schüler? und der
strenge staatsanwalt ist plötzlich der Mörder? Es ist,
als würde man die Münzen, die man ausgibt, immer
gleich wieder einziehen und umschmelzen. Die
Folge ist, dass in diesem spiel über persönliche
Verantwortung keiner nachhaltig für eine Figur
verantwortlich ist – weil er schon im nächsten
Moment eine andere, in ihren Motiven entgegen­
gesetzte Figur spielt.
so kommt es, dass der Lehrer völlig allein ist. Die
anderen Figuren haben die Aufgabe, das Reue­
geschehen in seinem Inneren zu illustrieren. Denn
es plagt ihn schwere schuld: Mittelbar ist er für den
tod eines schülers und die Verhaftung eines anderen
verantwortlich. Kurz vor Ende des Abends wendet
er sich schließlich ans Pu bli kum: »soll ich es sagen,
dass ich es war?«
Auf diesen Moment will der Regisseur
thomas Ostermeier hinaus: auf den Moment, da
einer seine schuld begreift. und einen schluss
zieht: so mache ich nicht weiter.
Hier ist wieder der zwingend didaktische ton,
der schon Peter sellars’ Eröffnungsrede der diesjäh­
rigen salzburger Festspiele durchzog: Wir müssen
unser Leben ändern. so geht es nicht weiter. (Auszug
aus sellars’ Rede: »Meine Damen und Herren, auf
der ganzen Welt sitzen heute Verantwortungsträger
an den Hebeln der Macht, die sich den dringend zu
ergreifenden Maßnahmen und der sofortigen Re­
ak tion auf das, was unser Planet einfordert, ver­
weigern und so den kommenden generationen die
Zukunft nehmen, sie opfern. Wie viele Wirbel­
stürme sind noch notwendig?«) und wozu wäre eine
Bühne da, wenn nicht dazu, uns ein Beispiel zu
geben, wie man richtig lebt, und zwar sofort. und
siehe: Am Ende von Jugend ohne Gott verlässt der
Lehrer das faschistische Land, um in Afrika zu unter­
richten. Der hat den Absprung also geschafft.
Die zweite große schauspielpremiere der salz­
burger Festspiele, Maxim gorkis Sommergäste
(1904), verwehrt ihren Figuren eine solche Ent­
wicklung. Für die Bürger, die sich hier in einer
palastartigen Villa auf dem Land treffen, um zu
trinken, ein an der zu betrügen und sich gegen­
seitig in schach zu halten, gibt es kein Entkom­
men. Die zentrale Macht in der Inszenierung des
38 ­jährigen russischen Regisseurs Evgeny titov
ist kein Mensch, sondern die Bühne selbst.
Wie ein in Hyperzeitlupe an uns vorbeifahrender,
offener Zug schiebt sich das Innere der Villa von
rechts nach links über die Bühne – wobei, um im

Bild zu bleiben, der erste Waggon des Zuges, sobald
er aus unserem sichtfeld geglitten ist, von der spitze
des Zugs ab­ und ans Zug ende wieder angehängt
wird, sodass der Eindruck eines unaufhaltsam an
uns vorbeiziehenden Innenraumes entsteht. Wir
sehen ein gebäude samt seinen Bewohnern in einer
gespenstischen Endlospolonäse dahingleiten. Wäre
dies ein Film, würde man sagen: In einer einzigen
»Einstellung« schwebt man durchs Haus – bezie­
hungsweise: Es schwebt das Haus mit seinen
Räumen fugenlos, »ohne schnitt« an uns vorbei.
Der pure schaueffekt dieser Bühne (Raimund
Orfeo Voigt), hinter dem harte und diskrete um­
bauarbeit steckt, ist magisch – als würde die Erd­
drehung ins Anschaulich­Räumliche übersetzt.
Der psychologisch­weltanschauliche Effekt zielt
noch tiefer: Er macht alle Figuren zu Zeitreisen­
den, die, ohne es zu merken und ohne eina nd er
zu helfen, auf ihr Ende zufahren.
Während dieser Raum also feierlich und un­
ablässig die Worte »unwiederbringlich« und »zu
spät« zu raunen scheint, herrscht zwischen den
Raumbewohnern die Achtlosigkeit von Lebens­
pfuschern, die darauf vertrauen, dass ihnen un­
endlich viel Zeit zur Verfügung steht.
Alle Paare sind in Auflösung oder schon zer­
brochen, und Liebesgeständnisse macht man hier
immer den Falschen. In manchen Momenten
befinden sich 25 Darsteller (einige von ihnen
statisten) auf der Bühne, sie sind bewaffnet mit
vollen gläsern und Champagnerflaschen und
hetzen ein an der durch die hohen Räume. titov
braucht dieses gewimmel, um seine spieler
effektvoll darin untergehen zu lassen. Aber er in­
szeniert keinen dieser untergänge als Verlust,
eher schon denkt man als Zuschauer: Jeder un­
tergang ist eine Erlösung.
Der alte, reiche Widerling semjon Doppelpunkt
etwa hat in der Darstellung von Martin schwab das
Heimatlose, ja Nomadenhafte eines Dementen, der,
egal wo er ist, nur noch in der Fremde ist. In aller
Kürze könnte man sein Leben so beschreiben: Er
findet nichts mehr, er sucht nur noch. Manchmal
überwältigt ihn die Erinnerung an die eigenen, toten
Kinder, dann schluchzt er kurz, und das schluchzen
geht in ein keckerndes Lachen über, als ihm ein ver­
gangenes Frauenabenteuer einfällt. so entkommt er
dem Jammer und fällt wieder in ihn zurück: Martin
schwab zeigt das Wesen dieses Alten als ein Hin und
Her zwischen schmerz und Angeberei. Es bleibt ihm
kein Ausweg: Die befreiende Denkbewegung zieht
immer die andere, trostlose nach sich.
solche eigensinnigen, sorgfältigen Figuren­
zeichnungen – Widerstände im untergangsgesche­
hen – sind selten: Evgeny titovs Inszenierung ist ein

Genija Rykova (als Warwara Michajlowna)
in Maxim Gorkis »Sommergästen«

Fotos: Monika Rittershaus/SF; Andreas Pein/laif (u.); Illustration: Pia Bublies für DIE ZEIT

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