Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

L


ENTDECKEN


»Es ist das Katzige und Kapriziöse, was


die Engländer unwiderstehlich macht«


ange schien es, als könne der Brexit vor al-
lem als Problem der Engländer beschrieben
werden – als Fantasterei, als demagogische
Drohung, als innenpolitischer Veitstanz,
ein einziger Krampf. Aber nun, da es ernst
wird und Boris Johnson überall den blon-
den Wuschelkopf in die Kameras hält, um
frohlockend den Auszug zu verkünden,
sollten wir vielleicht zugeben, dass der Bre-
xit auch unser Problem ist – und zwar nicht
nur ein technisches, sondern auch ein sen-
timentales. Wer von uns Kontinentaleuro-
päern, erst recht von uns Deutschen, nur
einen Funken Ehrlichkeit aufbringt und
die Bereitschaft, in sich hineinzuhorchen,
wird gestehen müssen: Der Brexit kränkt
uns. Wir fühlen uns ungeliebt.
Der interessante, lustige, schräge Macho
England will die europäische Bude also wirk-
lich wieder verlassen, und zwar, wie es
scheint, ohne jedes Bedauern. Kisten und
Kästen stapeln sich lieblos im Flur, es ist zwar
immer noch unklar, wie der ganze Krempel
fortgeschafft werden soll, aber das ist augen-
scheinlich für den Macho nur eine praktische
Frage. Er steht nicht tränenblind in der Tür
und hält, von Erinnerungen übermannt, den
wachsfleckigen Flokati in die Höhe, auf dem
wir einst gemeinsam saßen. Er hält vielmehr
das Portemonnaie in die Höhe und die Ne-
benkostenabrechnung und scheint sich nur
vor einem zu fürchten: nicht schnell genug
wegzukommen. Hat er niemals gerne mit
uns zusammengelebt? Haben wir ihn am
Ende nur in eine Beziehung hineinge-
quatscht, die ihm immer herzensgleichgültig,
ja durch die verordnete Nähe sogar klebrig
und unappetitlich war?
Wenn man einmal alles Juristische und
Diplomatische, auch den fatalen Streit um
das Sorgerecht für die verfeindeten iri-
schen Kinder beiseitelässt, wird der quä-
lende Kern unserer, wie wir jetzt sagen
müssen: total einseitigen und bescheuer-
ten Zärtlichkeit offenbar. Ja, wir haben
England immer geliebt, aber es hat uns
nicht zurückgeliebt. Wir haben uns selbst
belogen, England ist gar kein Vorwurf zu
machen. Hat es uns denn jemals Hoff-
nungen gemacht? Nein, hat es nicht. Es
hat unsere Zudringlichkeiten, unsere
Shakespeare-Bewunderung, unsere High-
Tea-Bewunderung, unsere Cambridge-
und Oxford-Bewunderung, unsere Ver-
ehrung für die Beatles und die ebenso
rocki gen schönen alten sports cars nur er-
tragen, wahrscheinlich nicht einmal als
Schmeichelei empfunden. Nur wir allein
haben uns Hoffnungen gemacht, wir ha-
ben uns wahrscheinlich eingebildet, wenn
wir erst einmal zusammenziehen, wird die
Zuneigung schon noch erwidert.
Die Wahrheit ist, dass England nur
unsere romantische Teenagerliebe war,

dass wir es aus der Ferne angehimmelt
haben, es war aber immer einige Klassen
über uns und hat sich uns selten zuge-
wandt, höchstens zu Zwecken einer In-
trige oder um uns in eine Schlägerei zu
verwickeln, für die es sich selbst zu schade
war, vorzugsweise gegen Frankreich.
Preußen hat es gegen ein Taschengeld
dazu gebracht, ihm im Siebenjährigen
Krieg die französischen Kolonien Nord-
amerikas zu gewinnen, und als Dänemark
gegen Na po leon einmal nicht mittun
wollte, hat es Kopenhagen so lange bom-
bardiert, bis Dänemark in die
antifranzösische Allianz ein-
trat. Zum selben Zweck wur-
de in Russland sogar ein Zar
ermordet. England demons-
trierte Überlegenheit, von
Emotionen keine Spur.
So haben die enttäuschten
Kontinentaleuropäer andere
Ehen un ter ein an der geschlos-
sen, die anders schiefgegangen
sind, aber wie es mit Teenager-
lieben so ist, man kehrt im
Alter zu ihnen zurück und
möchte sie als spätes Glück
erzwingen. Gab es nicht doch
gemeinsame Erinnerungen,
die in eine gemeinsame Zu-
kunft führen könnten? Und
war nicht sowieso auch bei
dem Angebeteten inzwischen,
nach dem Verlust des kolonia-
len Imperiums, viel von dem
Lack ab, der einst seinen
Hochmut begründete? Das
ungefähr könnte die Hoffnung
gewesen sein, als man England
vor den europäischen Traualtar
schleppte.
Aber die Gemeinsamkei-
ten, die man hatte sentimenta-
lisieren wollen, das zeigte sich
bald, waren immer nur unser
Ehrgeiz gewesen. Beim Ein-
tritt in die strenge Schule der Moderne,
Ende des 18. Jahrhunderts, erst recht An-
fang des 19. Jahrhunderts, hatten die
Deutschen begonnen, England anzu-
schwärmen und nachzumachen, wie es
wenig später alle taten, sogar die Franzosen
hatten sich, nachdem sie mit Na po leon ge-
scheitert waren, in der Imi ta tion des stol-
zen, dünnlippigen Gentlemans versucht.
Man verbarg seine Gefühle, trug karierte
Plaids, hielt sich einen Groom für die eng-
lischen Vollblutpferde, lenkte einen Tilbu-
ry, was damals der letzte Schrei aus Lon-
don war. Mein Urgroßvater (mütterlicher-
seits) ließ noch Ende des 19. Jahrhunderts
sämtliche Dinge des Alltagsbedarfs aus
England kommen, Kleidung, Tafelsilber,

selbst die Weihnachtskekse. Bei Londoner
Schustern lagen seine Leisten, er hatte eine
Art Schuh- und Stie fel abon ne ment, um
sicherzustellen, immer nach aktueller Lon-
doner Mode aufzutreten und nicht etwa
dumpf-deutsch hinterherzuhinken.
Seit einer gefühlten Ewigkeit hat Eng-
land den modischen und kulturellen Ge-
fühlshaushalt des europäischen Konti-
nents geprägt, seine Gärten und Parks,
seine Kleidung vor allem, den anfangs
befremdlichen Smoking hat es bis zum
heutigen Tag als Standard des Gesell-

schaftsanzugs durchgesetzt und den
alteuropäischen Frack degradiert. Die
schönsten englischen Stoffmuster werden
heute in Italien gewebt, die besten Tweed-
sakkos in Mailand geschneidert. Biegen
sich die Regale deutscher Supermärkte
nicht unter der exotischen Fülle englischer
Konfitüren? Es gibt keine Frucht dieser
Erde, die Engländer nicht in ein Ein-
machglas bringen, auch toll.
Durchgesetzt hat England ebenso den
Kriminalroman und Kriminalfilm als
Standardgattungen, manche englische
Klassiker waren auf dem Kontinent fol-
genreicher als daheim, Lau rence Sterne hat
die deutsche Literatur revolutioniert, Wal-
ter Scott die französische Romanliteratur

umgekrempelt und die italienische Oper
für Generationen mit Stoffen versorgt.
Oscar Wilde ist nirgendwo so verehrt wor-
den wie in Deutschland, ein gutes Bei-
spiel, denn der umwerfend unverschämte
Witz, bei Londoner Dandys schon gängig,
war hier unerhört und musste von den
Wiener und Berliner Feuilletonisten der
Goldenen Zwanziger erst gelernt werden,
allerdings mit Erfolg.
Der englische Witz, weniger gerichtet
und gallig als der französische, aber viel
frecher, ist eine Attitüde, die vielleicht
mehr als alles andere aus Ver-
blüffung Liebe erzeugt – indem
sie die Bewunderer auf Abstand
und also in fortgesetzter seeli-
scher Anspannung hält. Noch
heute wird der Engländer, der
auf einer binationalen Hoch-
zeit eine Rede hält, mit diesem
gewissen künstlichen Stottern,
alle Lacher für sich gewinnen.
Swinging London hat in den
Sechzigerjahren hervorgebracht,
was wir heute Rock und Pop
nennen; es waren aber auch die
Schnulzen immer mit Ironie
durchsetzt und manchmal mit
beachtlich hochfahrenden Ges-
ten, die Kinks waren ein erstes,
schrilles Beispiel. Der Snobis-
mus steckt in jedem englischen
Produkt.
England war niemals harm-
los, und selbst das Exzentrische
und Schrullige, das etwas gro-
bianisch noch von den Brexi-
teers gepflegt wird, hatte nie-
mals etwas Unschuldig-Unbe-
wusstes. Man war gerne schrul-
lig – als Unterhaltungsangebot
an die Mitwelt und um die
tatsächliche Lebenskraft und
Tüchtigkeit zu verbergen oder
auf ein erträgliches Maß zu ver-
mindern. Denn Tüchtigkeit of-
fensiv zu zeigen wäre niemals englisch und
schon gar nicht sophisticated, sondern be-
klagenswert deutsch. So offenbarte sich
auch beim Blick unter die Motorhaube der
klassischen englischen Autos ein un glaub-
licher Kabel- und Schlauchsalat, der Kraft
und Robustheit, ja Primitivität der Aggre-
gate verschleierte. Englische Technik hat
immer etwas Improvisiertes oder soll doch
so wirken, sie zeigt ein überwältigend prak-
tisches Talent für Behelfslösungen – und
Verachtung für glatte italienische Per fek-
tion oder deutsche Solidität.
Namentlich das Solide, dessen Fehlen
in England ja immer aufs Neue überrascht
(auch im Geschäftlichen), gehört dort
eher zu den als trostlos und fantasiearm

eingeschätzten Eigenschaften. Fleiß, Ge-
wissenhaftigkeit, überhaupt Anstrengung
und Schweiß bei der Arbeit sind keine
englischen Ideale, sie sind höchst unele-
gant, und das Unelegante von Mühe und
Plackerei hat ja auch die englische Arbei-
terschaft, als es sie noch gab, immer stark
empfunden, darin der Aristokratie enger
verbunden als der öde schuftenden Mittel-
schicht. Freilich musste diese immer
schuften und tut es noch – bezeichnender-
weise sind das heute die Leute, die sich vor
dem Brexit fürchten.
Aber im Allgemeinen ist Furcht nichts,
was Engländer zu zeigen bereit wären (da-
her der stete Spott über die German angst).
Engländer haben die Coolness erfunden,
mitunter sind sie sogar schneidend kalt,
das prädestinierte sie ja dafür, auf dem
Schulhof der europäischen Gesamtschule
angehimmelt zu werden. Theodor Fontane
hat einmal die Franzosen als das klassische
»Hochmutsvolk« bezeichnet, aber da
täuschte er sich. Es sind die Engländer.
Natürlich konnte und kann niemand so
glänzend und charmant, herzengewinnend
auftreten und für die Menschheit sprechen
wie ein französischer Staatspräsident –
Frankreich gewissermaßen als Heimatland
der Menschheit darstellend. England tat
und tut das nicht, es ist nicht die strahlen-
de Heimat der Menschheit – sondern der
Engländer. Aber das eben, dass sie sich
nicht gemeinmachen, schon gar nicht an-
biedern, auf Distanz und Splendid Iso la-
tion setzen, das Katzige und Kapriziöse
kultivieren, macht sie so unwiderstehlich.
Manchmal scheint es, als sehe das Land
sogar in dem Unvorteilhaften, das der
Brexit hat, einen Vorzug – die Rückkehr
zu dem kargen Feldbett des Junggesellen
als ultimative Stilgeste. Jedenfalls kann der
Eindruck entstehen, als bereue England
nichts mehr, als für eine trübe Zeit eine
feste Verbindung mit den Kontinental-
europäern eingegangen zu sein, sich darin
als verlässlich, also langweilig, glanzlos
und wie ein treudoofer Ehemann gezeigt
zu haben.
Das alles ist Spekulation und Vulgär-
psychologie. Es ist in Wahrheit nicht
leicht, dieses Land zu verstehen. Womög-
lich will es auch gar nicht verstanden
werden – der Beifall der Menge ist dem
Dandy suspekt. Selbst auf seine alten
Tage, in seinem, ehrlich gesagt, etwas
herunter gewirtschafteten Zustand, setzt er
noch immer die Miene des unerreichbaren
Stars auf, der seinen Fans nicht entgegen-
kommen muss, weil es übergenug davon
gibt. Und ist es nicht auch so? Wir werden
England immer lieben und seine Nähe
suchen, auch wenn die Schulter, die man
uns zeigt, immer kälter wird.

Oh, dear!

VON JENS JESSEN


Illustration: Jamie Cullen für DIE ZEIT

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46 8. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 33


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