Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

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ENTDECKEN


Wir treffen uns vor dem Café Cantona im
Zentrum von Leipzig. Der Sommer hat
noch nicht begonnen, aber draußen ist es
schon sehr heiß, Straßenbahnen kreischen
über die Windmühlstraße, weshalb wir uns
in ein Sépa rée im Innenraum verziehen.
Wir suchen nach Erklärungen für das, was
uns im Sommer täglich begegnet: Tattoos,
Tattoos, Tattoos – und jedes Jahr werden
es mehr. Was ist da los?
Der Treffpunkt ist eine Art Kompromiss:
Laura Lesser (35), Simone Klimmeck (29)
und Monty Richthofen (24) sind aus Berlin
angereist, weil Randy Engelhardt (40) der
Weg bis in die Hauptstadt zu weit war. Sein
Tattoo-Studio liegt in seiner Heimat, in
Zwickau, und sein Terminplan ist so voll,
dass es anders nicht geklappt hätte. Engel-
hardt ist nicht nur der Älteste, sondern auch
der Bekannteste von ihnen. Auf Instagram
folgen ihm 228.000 Menschen. Vor wenigen
Tagen ist er zum ersten Mal Vater geworden.

DIE ZEIT: Herr Engelhardt, wann darf sich
Ihr Sohn das erste Tattoo stechen lassen?
Randy Engelhardt: Wenn er reif dafür ist.
Ich würde mit ihm reden und schauen, ob er
Argumente für das Motiv hat. Oder ob er es
bloß haben will, weil’s der Nachbarsjunge
auch hat. Dann würde ich sagen: Das kannst
du knicken.
ZEIT: Was war das erste Tattoo, das Sie selbst
gestochen haben?
Simone Klimmeck: Bei mir war’s ein Penta-
gramm, vor sechs Jahren, auf einer Freundin.
Das sah zwar scheiße aus, aber Pentagramme
dürfen wild und rough sein.
Laura Lesser: Bei mir »Vincent«, der Name
meines Bruders. Auf meinem linken Fuß
steht vin wie Wein. Auf dem rechten Fuß
meiner kleinen Schwester cent wie Geld.
Wenn wir nebeneinander stehen, kann man
den Namen unseres Bruders lesen.
Engelhardt: Ein Tribal auf meinem Fuß, vor
zwanzig Jahren ...
ZEIT: ... das sind ornamentale Motive, die
Stammeskulturen entlehnt sind ...
Engelhardt: ... ja, damals war das hip.
ZEIT: Kann man sich denn überhaupt ver-
nünftig selbst tätowieren?
Engelhardt: Klar, das geht schon, man lässt
nur ein paar Sachen weg, das extreme Haut-
spannen zum Beispiel, das man eigentlich
macht, um besser arbeiten zu können. Aber
das tut schon für sich genommen weh – und
noch mehr, wenn man gleichzeitig tätowiert.
ZEIT: Jetzt im Sommer, wenn die Ärmel und
Hosenbeine kürzer sind, hat man das Ge-
fühl, die halbe Welt ist tätowiert. Umfragen
zufolge sind es in Deutschland unter den 25-
bis 35-Jährigen inzwischen tatsächlich mehr
als 50 Prozent. Haben Sie Angst, dass es ir-
gendwann uncool wird, tätowiert zu sein?
Monty Richthofen: Wird es nicht. Es ist im-
mer noch etwas anderes, ob man ein kleines
Kamel auf dem Knöchel oder einen Toten-
kopf auf dem Handrücken hat – das ist
sichtbarer und tut mehr weh. (zeigt auf den
Totenkopf auf seiner Hand) Du weißt das,
Randy, du hast auch einen.
Engelhardt: Vor drei, vier Jahren gab es einen
Wendepunkt. Die Zeiten, in denen man sich
im Freibad nach einem Tätowierten umge-
dreht hat, sind vorbei.
ZEIT: Gibt es einen aktuellen Sommertrend?
Engelhardt: Nicht als Motiv – der Trend ist
einfach, tätowiert zu sein.
ZEIT: Früher war ja das Arschgeweih weit
verbreitet ...
Engelhardt: An schlimmen Tagen hab ich
früher drei, vier Steiß-Tribals gemacht. Vol-
les Programm! Als ich mit den Tattoos an-
fing, musste ich tätowieren, was kommt.
ZEIT: Steiß-Tribal ist die Fachbezeichnung?
Richthofen: Ja, die sind jetzt auch wieder in.
Lesser: Schmerztechnisch übrigens ziemlich
tapfer, diese Stelle. Auch Brust, Bauch, Rip-
pen, unterer Rücken, Hände – das finden die
wenigsten angenehm. Aus persönlicher Er-
fahrung kann ich auch davon abraten, sich
die Ferse tätowieren zu lassen, muss ich nicht
noch mal haben.
ZEIT: Täuscht der Eindruck, dass Tattoos
sichtbarer geworden sind?
Engelhardt: Wenn ein 18-Jähriger zu mir
kommt und sein erstes Tattoo auf die Hand
oder auf den Hals will, zögere ich erst mal.
Der weiß doch noch gar nicht, wo er beruflich
landen wird. Es ist einfacher geworden, klar,
aber es gibt immer noch Regionen und Beru-
fe, in denen Tattoos nicht akzeptiert sind ...
Klimmeck: ... im öffentlichen Dienst oder bei
kirchlichen Trägern, gerade auf dem Land.
ZEIT: Machen Sie es trotzdem?
Engelhardt: Nicht bei einem so jungen. Frü-
her hatten wir die Regel: Hände und Hals
tätowieren wir nicht. Die gibt es längst nicht
mehr.
Richthofen: Kein Tätowierer, den ich kenne,
tätowiert beim ersten Mal direkt ins Gesicht.
Auch wenn sich das viele Kunden wünschen.
Engelhardt: Früher hat man begonnen mit
Tattoos, die man nicht sieht, wenn jemand
ein T-Shirt trägt. Heute ist es genau anders-
rum. Erst die sichtbaren Stellen, dann der
Rest. Manche wirken total zugehackt, und
wenn sie ihr T-Shirt ausziehen, sind sie leer.
Find ich panne, das ist ein Blender-Verhalten.

Die Kellner bringen Brot, Oliven, Hummus.
Vier tätowierte Arme greifen nach dem
Finger food. Engelhardts Haut ist bedeckt
mit bunten, flächigen Motiven, die schon

Beim ersten Mal


ist es am schönsten


Hand, Hals und Beine – Tattoos werden immer sichtbarer. Wir haben mit vier Tätowierern gesprochen


über das Schmerzgedächtnis, die perfekte Linie und die Rückkehr des Arschgeweihs


»Man hat ein Gefühl dafür,


was dem Kunden gut steht«


Randy Engelhardt

»An Tätowierungen liebe


ich die Hässlichkeit«


Laura Lesser

»Viele glauben, Tätowieren hätte


einen Rock-’n’-Roll-Faktor«


Simone Klimmeck

»Ich hab mich mal verschrieben –


jetzt ist das eine Stilrichtung«


Monty Richthofen

Am Abenbrottisch mit ... Tätowierern



  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 33

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