Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

ENTDECKEN


ein bisschen ausgeblichen sind. Bei den
Jüngeren sind die überwiegend monochromen
Motive noch gestochen scharf. Über Richt­
hofens Handgelenk findet sich unter anderem
der Satz »Call Mom«. Nie verkehrt.


ZEIT: Wie sind Sie zum Tätowieren ge­
kommen?
Klimmeck: Ich hab eigentlich Modedesign
studiert und war anfangs eher frustrierte
Kundin. Ich bin seit meiner Jugend tätowiert
und hab mich immer für die Details interes­
siert. Irgendwann sagte ein Tätowierer zu
mir: Ich hab keine Lust auf deine komischen
Ideen – mach’s doch selbst. Da dachte ich:
Wieso eigentlich nicht?
Lesser: In meiner Arbeit als Konzeptkünstle­
rin hab ich mir schon die unterschiedlichsten
Handwerke beigebracht. Und als ich vor vier
Jahren beschlossen habe, Tätowieren zu ler­
nen, bin ich dabei hängen geblieben. Stilistisch
komme ich eher aus der Fotorealismus­Ecke,
aber als ich ein Kind bekommen hab, hab ich
gemerkt, dass das vom Zeitmanagement her
nicht mehr geht. Jetzt zeichne ich abstrakter.
ZEIT: Sie tätowieren mit krakeliger Schrift,
viele Ihrer Motive sehen aus, als könnten
auch Kinder sie zeichnen. Kleine Monster,
Pommestüten.
Lesser: Viele Leute wollen niedliche Tiere
von mir. Je niedlicher die das wollen, desto
garstiger mache ich den ersten Entwurf.
Mittlerweile zeichne ich auch Geschlechts­
teile an die Tiere, ein Schamlippen­W zum
Beispiel. Und Haare. Das ist toll, wie die
Leute darauf reagieren, wenn wir über das
vorgezeichnete Motiv sprechen. »Die Brüste
gehen gar nicht, aber kannst du die Scham­
lippen unten bitte lassen?«
ZEIT: Herr Engelhardt, Sie sind dafür be­
kannt, fotorealistische Gesichter von Kin­
dern und Prominenten zu tätowieren. Was
halten Sie von Frau Lessers Arbeit?
Engelhardt: Wo fängt Kunst an, wo hört sie
auf? Wenn Picasso sagt, das Auge ist bei mir
schief und das andere ist gerade, dann ist das
eben so, dann ist das seine Kunst und fertig.
Solange beim Tätowieren das Fundament,
also die Hygiene, stimmt, bin ich damit ein­
verstanden.
Richthofen: Es ist viel schwieriger, ein Tat­
too, das nur aus drei Linien besteht, gut aus­
sehen zu lassen als eines, das aus 3000 Linien
besteht.
Engelhardt: Deshalb sind Kunden mit
kleinen Tattoos kleinlicher als mit großen
Sleeves, die den ganzen Arm bedecken. Die
kommen fünfmal in den Laden zurück
und wollen noch mal und noch mal und
noch mal.
ZEIT: Herr Richthofen, Sie sind ursprüng­
lich aus der Sprayer­Szene ...
Richthofen: Ja, ich komm vom Graffiti, da
haben wir immer kurze Statements neben
die Motive gesprayt, die Sätze hab ich in
Heften gesammelt. Leute fanden die Hand­
schrift cool. Ich dachte: Wie weit kann ich
gehen, wie weit vertrauen mir die Menschen?
Kann ich die auch tätowieren, ohne dass sie
wissen, was sie bekommen? Dann hab ich
über Instagram einen Aufruf dafür gemacht.
ZEIT: Wie viele Leute haben sich gemeldet?
Richthofen: Am Anfang nicht so viele, aber
das hat sich dann rasch geändert.
ZEIT: Woher wissen Sie, welcher Satz zu den
Menschen passt?
Richthofen: Zunächst reden wir ja, das kann
eine oder auch vier Stunden dauern. Ich
überlege, welcher Text passen könnte, was
die Essenz unseres Gesprächs ist, und täto­
wiere den dann, ohne ihn vorher noch mal
zu besprechen, zum Beispiel: Professional
Tourist oder I am not who they promised you I
was. Bis jetzt hat sich niemand beschwert.
Engelhardt: Man muss mit den Menschen
eine Verbindung aufbauen. Wie der Maß­
schneider ein Gefühl für den Anzug hat, hat


man als Tätowierer ein Gefühl dafür, was
dem Kunden gut steht.
Richthofen: Wobei das Interessante bei Spra­
che ist, dass der Kunde sehr viel interpretie­
ren kann. Einer Frau hab ich mal den Spruch
Eat what eats you tätowiert, also im Sinne von
»Der Stärkere überlebt«. Aber sie hat das in
einem sexuell­lesbischen Kontext gesehen.
Leck die Muschi, die dich leckt.
ZEIT: Ist es noch was Besonderes, Tätowierer
zu sein? Wenn man durch die Stadt geht, hat
man das Gefühl, an jeder Ecke öffnet ein
neues Studio.
Engelhardt: In Berlin liegt die Dunkelziffer
bei 1300 Tattoo­Studios, da wird mir echt
schlecht. Und mit Sicherheit kann mehr als
die Hälfte das nicht. Es ist halt cooler, in der
Disco zu erzählen: »Ich bin Tätowierer«, als:

»Ich räum beim Netto Regale ein.« Wobei –
nichts gegen Leute, die beim Netto Regale
einräumen.
Klimmeck: Viele glauben, sie könnten damit
viel Geld verdienen, Tätowieren hätte einen
Rock­’n’­Roll­Faktor und sei irgendwie sexy.
Dann machen sie ein Studio auf, ohne über­
haupt zu wissen, was sie wollen, wie ihre
künstlerische Vision aussieht.
ZEIT: Und verdient man damit richtig Geld?
Klimmeck: Man kann beim Tätowieren wie
mit beinah jedem Handwerk gut verdienen,
wenn man nicht ganz talentfrei ist und viel
Zeit, Mühe und Schweiß investiert. Die
Nachfrage ist groß.
ZEIT: Sie haben mal in einem Interview ge­
sagt, dass man es als Frau manchen Alpha­
Männchen in der Branche doppelt beweisen
muss. Ist Tätowieren Männersache?
Richthofen und Engelhardt: Näää.
Klimmeck: Mir als zarter Frau traut man
vielleicht zunächst gewisse Dinge nicht zu,
aber da geht es eher ums Geschäftliche.
Lesser: Ich hab vor ein paar Monaten meinen
Instagram­Namen geändert, vorher war er of­
fensichtlich weiblich, jetzt heiße ich »Bowser
Tattoos«. Seitdem bekomme ich viel mehr
Anfragen. Leute stehen im Laden und sagen:
Ich will, dass er mich tätowiert. Früher bekam
ich auch Nachrichten mit sexistischen Beleidi­
gungen. Jetzt passiert das nicht mehr.

ZEIT: Was halten Ihre Eltern von Ihrem Job?
Lesser: Meine Mutter hasst Tattoos, aber für
mich war schon mit neun klar, dass ich wel­
che haben werde.
Engelhardt: Meine Mutter hat sich von mir
tätowieren lassen: mein Gesicht als Einjähri­
ger. Ich bin immer noch ihr kleiner Junge.
Richthofen: Als meine Mutter mein erstes
Tattoo gesehen hat, bot sie mir 100 Euro an,
wenn ich mir kein zweites stechen lasse. Beim
dritten 500. Beim vierten 1000. Ich habe es
aber immer ausgeschlagen. Geht halt nicht.
ZEIT: Herr Engelhardt, Sie bilden in Ihrem
Laden auch Tätowierer aus. Wie läuft das ab?
Engelhardt: Meine Lehrlinge lernen alle auf
Schweinehaut, das ist viel schwieriger. Wenn
darauf die Linie perfekt ist, denkt man beim
ersten Mal am Kunden: Puh, geht das geil!

Klimmeck: Aber du siehst auf Schweinehaut
doch nicht, wie es verheilt. Kein Knochen!
Kein Blut!
Engelhardt: Das lernt man ja danach. Meine
Lehrlinge bringen jeweils mindestens sechs
Kumpels mit. Das sind ihre ersten Kunden.
Klimmeck: Die werden dazu gezwungen,
ihre Freunde zu tätowieren?
Engelhardt: Na klar. Ich kann die ja nicht an
meine Kunden stellen und sagen: Bitte
schön, der tätowiert Sie jetzt zum allerersten
Mal. Wenn da was schiefgeht, kann ich mei­
nen Laden zumachen.
ZEIT: Wie ist das, wenn man jemanden täto­
wiert, der noch kein Tattoo hat? Gibt es so
was wie die Angst vorm weißen Arm?
Lesser: Ich freu mich immer darüber. Das
sind oft die schönsten Tattoos und Erfahrun­
gen. Und es tut weniger weh.
ZEIT: Warum das?
Lesser und Klimmeck: Schmerzgedächtnis.
Lesser: Man wird empfindlicher mit den
Jahren. Beim ersten Tattoo stellt man sich
das Schlimmste vor, und dann ist es doch
nicht so wild. Wobei ich mal einen hatte, der
war erst 18 und hatte ganz empfindliche
Haut. Er hat vor Schmerzen gegen die Wän­
de geschlagen und so Geburtsgeräusche ge­
macht, der tat mir furchtbar leid.
ZEIT: Hilft irgendwas gegen den Schmerz?
Lesser: Es gibt Salben ...

Engelhardt: ... das würde ich nicht empfeh­
len. Wer ein Tattoo will, der muss da durch.
Das gehört dazu.
Richthofen: Theoretisch kannst du als Kun­
de ja jederzeit aufstehen und gehen.
Engelhardt: Macht aber keiner.
ZEIT: Gibt es einen Trick, um empfindliche
Kunden zu beruhigen?
Lesser: Ich hab ein Brot aus Schaumstoff, das
lässt sich kneten, und weil es ein Brot ist,
mögen es die Leute. Es hilft, sich aufs Atmen
zu konzentrieren. Sie dürfen auch zucken.
ZEIT: Welches Alter ist ideal, um sich ein
Tattoo stechen zu lassen?
Klimmeck: Ältere Haut ist halt nicht mehr so
schön zu tätowieren wie 20­jährige Haut.
Lesser: Ich find’s toll, wenn Leute kommen,
die älter sind. Einmal war eine Frau bei mir,

ich tippe, sie war schon 70. Ihr Alter wollte
sie nicht verraten, auf die Einverständnis­
erklärung hat sie nur geschrieben: »Ich bin
über 18.« Sie war mit ihrer Tochter zu Be­
such in Berlin und meinte: Das will ich jetzt!
Engelhardt: Eine 80­Jährige hat sich bei mir
mal einen Heißluftballon tätowieren lassen.
Sie meinte, diese Tour sei das Schönste gewe­
sen, was sie je erlebt habe.
Richthofen: Und, wie war ihre Haut?
Engelhardt: Völlig okay. Die Frau hat fast
nicht geblutet, die ganze Zeit gelacht und
sich an der Bar einen Schnaps bestellt. Eine
richtig coole Omi.
ZEIT: Haben Sie beim Tätowieren schon
mal einen Fehler gemacht?
Richthofen: Ich habe mich mal verschrieben.
Engelhardt: Wie beim Schuldiktat oder wie?
Rot durchstreichen und einen senkrechten
Strich dahinter?
Richthofen: Das ist vor drei Jahren passiert.
Seitdem betreibe ich das aktiv: Fehler ma­
chen, Sachen durchstreichen. Daraus ist eine
Stilrichtung entstanden. Manche Leute wol­
len, dass ich es genau so mache.
Klimmeck: Es ist natürlich cool, wenn man
sich diesen Humor erlauben kann. Mir fällt
das schwer. Ich wollte mal eine Schere täto­
wieren, die ein Band durchschneidet. Der
Kunde und ich waren in ein super Gespräch
vertieft. Und dann ist es passiert. Ich hab so

tätowiert, dass das Band nicht in der Schere,
sondern dahinter liegt. Schweißausbruch!
Also hab ich gesagt: Sorry, was hältst du da­
von, wenn wir das Band schwarz machen?
Engelhardt: Die einzige Möglichkeit. Das zu
sagen macht Professionalität aus.
Klimmeck: Er fand das am Ende selber nicht
schlecht. Man sieht den Fehler nicht.
ZEIT: Gibt es Motive, die zu stechen Sie sich
weigern?
Engelhardt: Ich mach nichts Politisches, we­
der rechts noch links. Kunst hat nichts mit
Politik zu tun.
ZEIT: Nicht mal Che Guevara auf dem
Oberarm?
Engelhardt: Das würde ich schon machen.
Aber bei allem, was Symbolik ist, halte ich
mich raus. Es ist halt so: Wenn ich einen Che
Guevara tätowiere, kommt am nächsten Tag
jemand und will Hitler haben.
Richthofen: Ich mache schon gesellschafts­
kritische Sachen: gegen den Kapitalismus, ge­
gen Marketing, gegen Bullen, also eher links
orientiert. Ich steh dazu. Politik hat im 21.
Jahrhundert etwas auf der Haut zu suchen.
Lesser: Es geht darum, was man selbst ver­
treten kann. Hakenkreuze zum Beispiel ge­
hen gar nicht. Mein politischstes Statement
ist ein haariges Bein auf dem Bein.
ZEIT: Wie geht man als Tätowierer eigent­
lich mit all den entblößten Körpern um?
Richthofen: Wenn die Kunden sich auszie­
hen, schaust du nicht hin. Ein Körper ist ein
Körper. Manchmal muss man den Busen
eben beiseiteschieben. Wenn man die Frau
aber nach dem Termin auf einen Kaffee ein­
lädt, dann wird es übergriffig.
Engelhardt: In meiner Steiß­Tribal­Zeit hat­
te ich mal eine Kundin, zu der ich sagte:
»Mach dich schon mal frei.« Als ich wieder­
kam, hatte sie gar nichts mehr an. Wie’s
Mutti gezeigt hat – Klamotten auf einem
Stapel. Ich stand geschockt daneben und hab
gefragt: Steiß­Tribal, oder?

Wir müssen langsam zum Ende kommen.
Der letzte Zug nach Berlin verlässt bald den
Leipziger Bahnhof. Klimmeck hat Geburts­
tag und möchte am Abend zu Hause feiern.

Z EIT: Würden Sie sagen, dass Sie Men­
schen schöner machen?
Richthofen: Nur deshalb geben Leute so viel
Geld aus für Tattoos.
Klimmeck: Wir kommen alle mit einem sehr
zufälligen Erbpaket auf die Welt. Wir haben
uns nicht ausgesucht, wie wir aussehen. Tä­
towieren ist eine Art, selbst Einfluss auf seine
Erscheinung zu nehmen. Manchen reichen
Haarschnitt und Kleidung eben nicht.
Lesser: Für mich ist der nackte Körper ohne
Tätowierungen am allerschönsten.
Richthofen: Warum tätowierst du dann?
Lesser: Weil ich das Handwerk liebe. Weil
ich Tätowierungen liebe. Weil ich die Häss­
lichkeit daran liebe.
Richthofen: Aber das ist ja paradox.
Lesser: Ich finde den Begriff Schönheit platt.
Eine Tätowierung ist eine Narbe. Wenn man
sich eine Pusteblume hinmalt, macht das einen
nicht schöner. Das macht einen hässlicher.
Richthofen: Es kommt darauf an, wie sich
die Person danach fühlt. Ich würde nieman­
dem etwas tätowieren, das ich nicht selbst
tragen würde.
Lesser: Oft sind Frauen bei mir, die sagen:
»Ich will es nicht auf meinem Bein, ich hasse
meine Beine.« Dann sage ich: Ich habe mei­
ne Beine auch gehasst. Erst seitdem da Tat­
toos drauf sind, sind es meine Beine. Tattoos
sind eigentlich kein Bild auf der Haut. Son­
dern ein Bild, das in deiner Haut gelagert ist.
Etwas, das von dir nach außen scheint.

Das Interview führten Karin
Ceballos Betancur und Marcel Laskus.
Die Fotos machte Felix Adler

»Tätowieren ist eine Art, selbst Einfluss auf seine Erscheinung zu nehmen«

Arbeiten von
Simone
Klimmeck,
Randy
Engelhardt,
Monty Richthofen
und Laura Lesser
(von oben
nach unten)

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