Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 33 POLITIK 5


Die Nein-Sager


Im Persischen Golf steht mehr auf dem Spiel als die Sicherheit der Handelswege. Kann Deutschland in jedem Fall


militärischen Beistand verweigern? VON GERO VON RANDOW UND MICHAEL THUMANN


D


eutschland sagt Nein. Wa-
shing ton hat es Berlin
leicht gemacht, einen Ma-
rine-Einsatz an der Straße
von Hormus abzulehnen.
Schließlich fragte ausgerech-
net jene Regierung, die an
der Eskalation am Golf maßgeblichen Anteil hat,
ob die Deutschen helfen, dort fahrende Öltanker
vor Angriffen zu schützen. In Berlin war man sich
schnell einig: Keine Mis sion unter US-Befehl.
Fall erledigt?
Absolut nicht. Was sich in jener Region zusam-
menballt, ist hochexplosiv. Und mitnichten können
die Deutschen hoffen, in jedem Fall unbeteiligt und
unbehelligt danebenstehen zu können.
Gewiss, mit ihrer Anfrage haben die Amerikaner
unwillentlich der großen Koa li tion diesmal noch
einigen Ärger erspart. Denn wenn Berlin über einen
rein europäischen Einsatz von Soldaten am Golf zu
entscheiden hätte, gäbe es wahrscheinlich Streit
zwischen Union und SPD. Die Union plädiert
mehrheitlich dafür, die SPD hingegen erwägt allen-
falls Modelle »kollektiver Sicherheit«, zum Beispiel
unter dem Mandat der Vereinten Nationen (was
wegen des russischen Vetorechts im UN-Sicher-
heitsrat höchst unwahrscheinlich ist).
Im Falle einer europäischen Mission solle
»Deutschland die politische Führung übernehmen
und sich nicht wegducken«, sagt der Trans atlan tik-
Ko or di na tor der Bundesregierung, Peter Beyer von
der CDU. Der außenpolitische Sprecher der SPD-
Fraktion, Nils Schmid, meint dagegen im Tages-
spiegel, eine eigene EU-Mission sei bisher eine
Phantomdebatte. »Ohne Großbritannien ist das ein
bisschen schwierig.« In der Opposition ist das Bild
ähnlich vielstimmig. Die Linke und die AfD lehnen
jegliche Entsendung von Soldaten ab, der Grünen-
Chef Robert Habeck hingegen kann sich eine Mis-
sion mit europäischem Segen vorstellen.
Nur gut, mag sich mancher Regierungspolitiker
denken, dass Donald Trump gefragt hatte und nicht
etwa die Briten oder gar Emmanuel Macron. So
fällt das Neinsagen leichter. Allerdings kann es gut
sein, dass das deutsche Nein nicht bloß mit dem
derzeitigen amerikanischen Präsidenten zu tun hat.
Es erspart nämlich auch Ärger mit den Bürgern.
Am 1. August fragte das Emnid-Institut im Auftrag
der Bild am Sonntag, ob sich Deutschland im Golf
»an einem internationalen Marine-Einsatz zur Si-
cherung der Schifffahrtswege« beteiligen sollte. Mit
Nein antworteten 59 Prozent der Befragten.
Verwundern konnte das niemanden. Deutsch-
land hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges in

der sicherheitspolitisch bequemen Vorstellung ein-
gerichtet, von Freunden umgeben zu sein. Das ge-
flügelte Wort trifft freilich nur dann zu, wenn man
bloß die unmittelbare Nachbarschaft als Umgebung
ansieht, eine in Zeiten der Globalisierung und der
wachsenden Zahl von Ländern mit Mittel- und
Langstreckenraketen recht abwegige Weltsicht.
In Wahrheit ist die Politik auch längst weiter,
schließlich beteiligt sich die Bundeswehr derzeit
an einem guten Dutzend Auslandseinsätzen,
von Mali bis nach Afghanistan. Außenpolitisch
friedfertig, wenngleich im Inneren zunehmend
aggressionsbereit, nimmt der Deutsche diese
Auslandseinsätze seines Militärs jedoch lieber
nicht wahr, er verdrängt sie vielmehr; wird er
allerdings nach einem neuerlichen En gage ment
der Bundeswehr gefragt, ist sein erster Reflex
das Nein.
Diese Reaktion scheint so tief in der Bevölke-
rung verankert zu sein, dass die Politiker sie meis-
ten teils vorwegnehmen. Das vor allem, und nicht
bloß der beklagenswerte Zustand der Bundes-
wehr und namentlich der Marine, verringert das
politische Gewicht und auch den Handlungs-
spielraum der Bundesrepublik.
Sie braucht indes Gewicht und Spielraum,
um angesichts einer Krise wie der am Arabisch-
Persischen Golf politisch handeln zu können.
Denn gerade diese Krise kann jederzeit überra-
schende Wendungen vollziehen.
Ein Beispiel: Vor wenigen Tagen haben irani-
sche Revolutionsgarden einen weiteren Öltanker
gekapert. Doch aus den USA kam kein Protest.
Das liegt daran, dass es sich bei diesem Tanker
nach iranischen Angaben um ein Schmuggler-
schiff für Ölprodukte handelt. Und am Öl-
schmuggel haben auch die USA kein Interesse.
Es gibt eben Krisen, die sprunghaft und erratisch
verlaufen, auf die man daher flexibel reagieren
muss; also anders als mit einem Nein für alle
Fälle oder nur unter idealtypischen Einsatzbe-
dingungen wie dem von der SPD gewünschten
UN-Mandat.
Vier Szenarien des Krisenverlaufs sind zurzeit
denkbar – Szenarien, keine Pro gno sen. Und für
jedes wäre die Frage eines Einsatzes gesondert zu
beantworten.
Erstens, Regimewechsel: John Bolton, Sicher-
heitsberater von US-Präsident Donald Trump, hat
wiederholt deutlich gemacht, dass er einen Sturz
des iranischen Re gimes befürwortet. Als Staatssekre-
tär für Rüstungskontrolle und internationale Sicher-
heit unter US-Präsident George W. Bush hatte er
die Entmachtung des Diktators Saddam Hussein

im Irak 2003 vorbereitet. Sollte die jetzige Krise zu
einem Krieg der Vereinigten Staaten gegen das ira-
nische Re gime eskalieren, werden die Deutschen
wahrscheinlich nicht anders handeln als 2003 beim
Krieg gegen Saddam Hussein: Sie werden sich
heraushalten. Zu Recht.
Zweitens, Beistandsverpflichtung der Nato:
Anders als Bolton möchte Trump keinen Krieg
gegen den Iran führen. Der Raketen- und Han-
delskonflikt mit der aufstrebenden Weltmacht
China hat Priorität. Außerdem steht Trump be-
reits im Wahlkampf, und er kann jetzt schon
sein Versprechen nicht halten, US-Truppen aus
dem Ausland heimzuholen. Gleichwohl, eine
militärische Konfrontation mit dem Iran bleibt
möglich, denn es kann immer etwas schiefgehen.
Die USA unterhalten beispielsweise Militär-
stützpunkte im Irak, in Kuwait, Bahrain, Katar,
im Oman und in den Vereinigten Arabischen
Emiraten. Die Stützpunkte liegen sauber auf-
gereiht auf der arabischen Seite des Golfs gegen-
über der iranischen Küste. Die iranischen Revo-
lutionsgarden hüten sich bisher, diesen Basen zu
nahe zu kommen. Doch würden sie – ohne selbst
angegriffen worden zu sein – einen Stützpunkt
attackieren, kann der Bündnisfall nach Artikel 5
des Nato-Vertrags eintreten.
Dann müssten die Deutschen den USA ihre
Hilfe anbieten, wenn sie ihrerseits weiter den
Schutz der USA nach Artikel 5 genießen wollen.
Und zwar mehr aus realpolitischer Erwägung
denn aus buchstabengetreuer Vertragserfüllung:
Trump ist nicht gerade ein Fan des amerikani-
schen Schutzversprechens für Europa, das seiner-
seits mit einer aufrüstenden und ausgreifenden
Großmacht zu tun hat, nämlich Russland.
Drittens, Krieg mit Israel: Iranische Politiker
haben wiederholt mit der Zerstörung Israels ge-
droht. Seit Jahrzehnten arbeitet der Iran daran,
mit schiitischen Milizen möglichst nah an die
israelische Grenze vorzurücken. Heute richtet die
libanesische Hisbollah Tausende schlagkräftiger
Raketen auf Israel, im Süden Syriens und im
Wes ten des Iraks wiederum sind schiitische Mili-
zen stationiert, stets bereit, mit Abstandswaffen
gegen Israel loszuschlagen. Der Iran rüstet auch
Hamas in Gaza aus. Sollte die Lage in der Straße
von Hormus eskalieren, könnte der Iran Israel in
den Konflikt hineinziehen.
Dann müsste sich der Satz Angela Merkels,
die »Sicherheit Israels« sei »Teil der Staatsräson
Deutschlands«, an der Realität beweisen.
Die Kanzlerin hat das 2008 in der Knesset üb-
rigens nicht ganz allgemein gesagt, sondern durch-

aus mit Blick auf den Iran. Wie aber könnten sich
die Deutschen in so einem Fall der Bitte entziehen,
sich an der Verteidigung Israels zu beteiligen?
Viertens, Angriffe auf Deutsche: Manche Ber-
liner Politiker, zum Beispiel Stefan Liebich von der
Linken, behaupten, dass der Konflikt am Golf nur
einer zwischen den USA und dem Iran sei. Ande-
re verweisen darauf, dass rund 80 Prozent der Öl-
exporte aus der Region nach Fernost und nicht
nach Europa gehen. Aber hat nicht die Bundes-
regierung im Verteidigungsweißbuch 2016 auf
die »herausragende Bedeutung« der internationa-
len »Sicherheit maritimer Versorgungswege« für
Deutschland hingewiesen? Zu ihnen zählt die
Straße von Hormus.
Vor Kurzem hat der iranische Präsident Hassan
Ruhani sogar Kontrollrechte in der Meer enge zwi-
schen dem Jemen und Eritrea geltend gemacht, die
zum Sueskanal führt. Überdies ist im Juni ein
Frachter einer Hamburger Reederei angegriffen
worden, was die Deutschen daran er innert haben
sollte, dass sie als globale Handelsnation sehr wohl
verletzlich sind. Sicherheit der Handelswege ist
durchaus ihr eigenes Interesse. Sollten deutsche
Schiffe angegriffen werden, wollen wir dann die
Amerikaner bitten, sie für uns zu verteidigen?
Sich angesichts solcher Szenarien bloß einen
Vorrat aus strikten Neins zuzulegen hieße, eine
Grundregel der Außenpolitik zu verletzen: mög-
lichst wenig zu tun, was die eigene Flexibilität be-
schränkt, möglichst viel zu tun für eine Vielzahl an
Optionen. Außerdem: Was ist ein Nein wert, wenn
es von jemandem kommt, der sich ohnehin nicht
zu einem Ja durchzuringen vermag?
Was aber stattdessen? Die Deutschen könnten
beispielsweise einen konkreten Vorschlag für eine
eigenständige europäische Mission unterbreiten,
auf jeden Fall zusammen mit den Franzosen, am
besten noch mit weiteren EU-Ländern.
Die Amerikaner würden solche Eigenständig-
keit wohl kaum begrüßen, aber damit könnte
man leben. So ein Vorschlag wäre vor allem ein
Si gnal an Teheran. Das Re gime ist an einem
Bruch mit Europa nicht interessiert.
Eine derartige Mission würde es den Europä-
ern außerdem erlauben, sich selbst ein unabhän-
giges Bild von der Lage zu machen. Und sollte es
tatsächlich zur Entsendung eines europäischen
Kommandos kommen, dann wäre ein Mitspieler
am Golf präsent, der definitiv nicht an Es ka la-
tion interessiert ist.

Siehe auch Wirtschaft, Seite 18: Über die Straße
von Hormus

Die Straße von Hormus ist ein Nadelöhr des weltweiten Ölgeschäfts Ende Juli setzen Schnellboote der iranischen Revolutionsgarden einen Tanker fest

BRITISCHER
ÖLTA N K ER
»STENA IMPERO«

SCHNELLBOOTE
DER IRANISCHEN
REVOLUTIONSGARDEN

Straße von Hormus


D


ie neue Kaschmir-Politik der indischen
Regierung bedeutet eine Zäsur in der
Geschichte des Landes und des ganzen
Subkontinents. Seit Jahrzehnten ver-
langen die Hindu-Nationalisten von Premier-
minister Narendra Modis Indischer Volkspartei
(BJP), dass die bisher geltenden Sonderrechte der
Himalaya-Region mit muslimischer Bevölkerungs-
mehrheit kassiert werden sollen. Nun, gestärkt durch
einen hohen Wahlsieg im Frühjahr, hat die Regie-
rung mit parlamentarischer Unterstützung diesen
Schritt tatsächlich beschlossen. Zugleich soll der
bisherige Bundesstaat Jammu und Kaschmir (der
neben dem vorwiegend muslimischen Kaschmir-Tal
auch mehrheitlich hinduistische beziehungsweise
buddhistische Gebiete umfasst) in zwei Territorien
ohne vollen bundesstaatlichen Status zerlegt werden.
Ob der Schlag gegen die kaschmirische Autonomie
verfassungsrechtlich zulässig war, ist umstritten und
wird gewiss noch das Oberste Gericht in Neu-Delhi
beschäftigen. Dass er weitreichende Folgen haben
wird, lässt sich schon jetzt absehen.
Er ist die vorerst letzte Episode einer seit Jahr-
zehnten leidvollen Geschichte. Als die britische
Kolonialmacht sich 1947 aus Süd asien zurückzog,
wurde der indische Subkontinent auf zwei Staaten
aufgeteilt: das (vorwiegend hinduistische, verfas-
sungsmäßig säkulare) Indien und das islamische
Pakistan. Kaschmir war das einzige mehrheitlich
muslimische Territorium, das sich Indien anschloss


  • denn der Maharadscha, der regierende Fürst, der
    die Frage zu entscheiden hatte, war ein Hindu.
    Pakistan hat das Ergebnis nie akzeptiert, es hat
    um den Besitz von Kaschmir mehrere Kriege ge-
    führt, und ein Teil der Region ist bis heute unter
    pakistanischer Kontrolle. Aber auch in der indisch
    regierten Hälfte gibt es teilweise bitteren Wider-
    stand gegen Neu-Delhis Oberhoheit. Der Kampf
    zwischen militanten, aus Pakistan unterstützten
    Rebellen und repressiven indischen Sicherheits-
    kräften hat in den 1990er-Jahren Zehntausende
    von Opfern gefordert. Das Gewaltniveau ist seit-
    her gesunken, aber die politische Entfremdung
    keineswegs geringer geworden. Zahllose Kaschmi-
    rer empfinden Indien nicht als ihr Land, sondern
    als Besatzungsmacht. Dies ist, auch wenn er weni-
    ger internationale Aufmerksamkeit bekommt, ei-
    ner der Großkonflikte der Gegenwart, vergleich-
    bar dem ungelösten Israel-Palästinenser-Problem.
    Das ist der Hintergrund, vor dem die Aufkündi-
    gung der bisherigen Autonomie- und Sonderrege-
    lungen so gefährlich wirkt. Bisher etwa war es In-
    dern aus anderen Landesteilen nicht möglich, in
    Kaschmir Grund und Boden zu erwerben. Aus BJP-
    Sicht ist es ein überfälliger Akt der Normalisierung,
    mit solchen Ausnahmen Schluss zu machen. Für
    viele Kaschmirer dagegen waren sie eine Minimal-
    garantie ihrer regionalen und religiösen Identität,
    eine Restversicherung gegen die Überwältigung
    durch einen Staat, dem sie nicht trauen.
    Es besteht die akute Gefahr, dass frustrierte
    Kaschmirer auf diesen empfundenen Bürgerverrat
    mit Gewalt antworten werden. Unterdessen hat
    Pakistan bereits erklärt, dass es die Integration der
    Himalaya-Provinz ins indische Staatsganze nicht
    anerkennen werde. Islamabad hält sich bereit, die
    drohende Verbitterung und Unruhe in Kaschmir
    zu unterstützen, zu munitionieren und auszunut-
    zen. Neu-Delhi wiederum könnte sich dann zur
    Vergeltung gegen Pakistan veranlasst sehen. Und
    das alles immer unter Atommächten.
    Die neue Kaschmir-Politik zeigt mit erschre-
    ckender Klarheit den Charakter und die Stärke der
    vaterlandstrunkenen Ideologie, die Indien zuneh-
    mend im Griff hat. Noch vor wenigen Monaten,
    in Premierminister Modis erster Amtszeit, wären
    Radikalmaßnahmen wie die jetzt beschlossenen
    unmöglich erschienen, sie gehörten ins Reich der
    BJP-Wunschfantasien. Nun werden sie Wirklich-
    keit. »In unseren wildesten Träumen«, hat der Op-
    positionspolitiker und frühere Finanzminister P.
    Chidambaram über den Kurs der Regierung ge-
    sagt, »haben wir nicht gedacht, dass sie einen der-
    art katastrophalen Schritt unternehmen würden.«
    In Indien ist jetzt der enthemmte Nationalismus
    an der Macht. JAN ROSS


Wem gehört


Kaschmir?


Wie der indische Nationalismus neue
Spannungen mit Pakistan schafft

CHINA

Tibet

PA K ISTA N

INDIEN

Jammu
und
Kaschmir

Ladakh

vo n Pakistan
kontrolliert, von
Indien beansprucht
von Indien kontrolliert,
bisheriger Bundesstaat
Jammu und Kaschmir
(J&K) wird künftig zu
zwei »Union Territories«
(J&K und Ladakh)

Region Kaschmir

keine
definierte
Grenze

Nördliche
Territorien

Srinagar

Delhi

Islama-
bad

INDIEN

IRAN

von Indien
beansprucht,
von China
verwaltet

ZEIT- GRAFIK

100 km

von China
beansprucht

CHINA

ofktregion Kaschmir

»Kontrolllinie«, faktische
Grenze zwischen Indien
und Pakistan

Jammu
und
Kaschmir

Ladakh

keine
definierte
Grenze

Nördliche
Territorien

Fotos: Jacques Descloitres/NASA/GSFC (l., Ausschnitt); Morteza Akhoundi/picture alliance/dpa (r.)


IRAN


89,8 km
von^ H
or
m
u
s

Golf von Oman


VEREINIGTE
ARABISCHE
EMIRATE

OMAN


Persischer Golf

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