Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1
HvammstangiHvammstangi

AkureyriAkureyriVopnaördurVopnaördurVopnaördur

HúsavíkHúsavík

ISLAND

REISE


n meinem letzten Tag auf Island, am nord-
östlichen Rand der Insel, kommt mir ein
Radfahrer entgegen. Tief gebeugt hängt er
über seinem Lenker, das Gesicht verzerrt,
der Tritt unrund, seine Regenklamotten
flattern im Wind. Ich verbeuge mich im
Geiste und fahre hinter meiner Wind-
schutzscheibe weiter die langen Abwärts-
kurven hinunter. Nach einigen Minuten
kommt mir eine Radfahrerin entgegen,
noch abgekämpfter als der Mann. Sie weint.
Ich verbeuge mich noch tiefer, bereite ihr
im Geiste eine heiße Schokolade zu und
denke, die beiden sind bestimmt heute
viele, viele Höhenmeter tiefer in Seydisfjör-
dur gestartet, dem Hafen für die Fähre aus
Dänemark. Und dann gleich so eine Tortur.
Ich wittere Beziehungsbelastung und denke
auch wieder, wie hübsch, wie schön allein
und kommod ich es hatte auf meiner Auto-
tour entlang des Arctic Coast Way.
Dieser Arctic Coast Way, Nordurstran-
darleid auf Isländisch, wurde zu Beginn der
diesjährigen Sommersaison eröffnet. Die
Route verknüpft bestehende Straßen und
verläuft über die Halb inseln an Islands
Nordküste. Die bekanntere Ringstraße, die
die Insel gut ausgebaut umrundet und an
die sich die meisten Besucher halten, liegt
südlich davon. Die 900 Kilometer des Arc-
tic Coast Way sollen durch einige der abge-
legensten Gegenden Islands führen und
bieten sich vielleicht als Ausweichroute für
diejenigen an, denen es entlang der Haupt-
straße zu voll wird. Schließlich kommen
Jahr für Jahr mehr Touristen.
Ich befahre den Nordurstrandarleid also
von West nach Ost, von Hvammstangi bis
Vopnafjördur. Eine Woche habe ich dafür.
Vom Flughafen Keflavík tief im Südwesten
des Landes rolle ich nach Norden. Bei Bor-
garnes bekomme ich Appetit und steuere
eine Tankstelle mit Shop an. Ich finde eine
Gaskartusche für meinen Campingkocher
und einige Konserven, um in den nächsten
Tagen autark zu sein. Dann esse ich einen
Hotdog, draußen, an meinen Wagen ge-
lehnt. Ich schaue auf einen tiefgrauen
Fjord unter dichtem, tiefgrauem Himmel,
dahinter Berge, schroff, dunkel, in der Fer-
ne auch schneebedeckt, und die Luft ist
gleichzeitig klar und gedämpft von der
Schwere der Berge und des Himmels.
Keine drei Stunden soll ich brauchen
bis Hvammstangi, behauptet die Navi-
App, mehr als doppelt so lange dauert es
tatsächlich. Denn nach dem Hotdog fahre
ich durch eine weite Hochebene, in der das
Band der Straße, noch dunkler als das
Land, wunderschön auf und ab schwingt.
Die Straße folgt nicht stur dem Profil der
Landschaft, manchmal schwingt sie zur
einen Seite, wenn das Land der anderen
Seite zuzustreben scheint, manchmal be-
schreibt sie eine weite Kurve, ohne dass
man versteht, warum sie ausgerechnet dort
nicht einfach geradeaus führt, und das eine
betont so den Swing des anderen, als führ-
ten sie zusammen ein Stück auf, das nur als
Duett vollkommen gelingt, und je länger
ich ihm beiwohne, desto ruhiger und dabei
wacher werde ich.
Kein Baum steht, es könnte eine Steppe
sein, aber wenn ich aussteige, sehe ich
kaum Gras; fast nur Flechten und Moos
krallen sich in den Boden. Immer wieder
halte ich an und starre ins Weite, und als
ich mein Ziel erreiche, ist es zwar noch hell,
aber Nacht und die Re zep tion meines Ho-
tels nicht mehr besetzt. Über einen Code
gelange ich aufs Zimmer. So erspare ich es
mir, nach den ruhigen Stunden wieder mit
dem Sprechen beginnen zu müssen.
Hvammstangi hat knapp 600 Einwohner,
einen Supermarkt, eine Tankstelle, eine Apo-
theke, eine Post, ein Gesundheits- und ein
Seehundzentrum. Es ist nicht sein urbanes
Glitzern, was den Ort zum Startpunkt des
Arctic Coast Way macht. Er liegt schlicht am
südwestlichen Ende von Vatnsnes, der ersten
Halb insel auf der West-Ost-Route. Auf
schmaler Rollsplittpiste knirscht mein Auto
an der Küste entlang nach Norden. Ich sehe
Schafe, wenige Bauernhöfe, kaum andere
Wagen. Auf einer Grasfläche unterhalb der
Straße, direkt am Strand, steht ein alter höl-
zerner Pferch, kreisrund und unterteilt wie
ein riesiges Kutschenrad, zum Schafesortie-
ren. Hier bleibe ich ein paar Minuten, und
zwei weitere Mietwagen halten, Leute steigen
aus und fotografieren. Wir beachten uns be-
tont nicht, als wollte so jeder für sich glauben
können, der einzige Besucher hier zu sein. Ein
Stückchen weiter halte ich, weil ich die
orange far be ne Kuppel eines Leuchtturms so
pittoresk finde. Weit im Westen über die
riesige Húnaflói-Bucht hinweg sind auf dem
Meer Konturen auszumachen, eine Ahnung
von Land. Wäre ich Seefahrer: eine Hoffnung.
Dann drückt der Wind Löcher in die
Wolkendecke, aus ihnen strahlt die Sonne
gebündelt nach unten, und aus den Kon-


turen schälen sich im Scheinwerferlicht
Berge heraus. Der Scheinwerfer wandert
weiter mit dem windgewehten Wolken-
loch, auf schneebedeckte, schroffe Berge,
auf Strände. Das ist tatsächlich Land, das
ist Strandir, ein Abschnitt der Westfjorde,
der großen, zerklüfteten Extraportion Is-
land im äußersten Nordwesten.
Über die nächsten Stunden fahre ich
und halte an, koche Kaffee, schaue herum,
fahre weiter und sehe nur wenige Men-
schen. Das Karge, Leere beginnt sich woh-
lig in mir breitzumachen als entspannende
Gedankenlosigkeit. Auf der östlichen Seite
der Halb insel biege ich einmal von der
Piste ab, um mir eine Klippe näher anzu-
sehen, und kreische beinahe vor Schreck:
Ein Dutzend Autos und ein Reisebus ste-
hen auf einem Parkplatz. Kurz überlege
ich, kehrtzumachen vor diesen Horden.
Und dann ist es wie oft: Wo viele hinwol-
len, ist es oft wirklich hübsch. Unten im
Wasser steht ein einsamer Felsen, 15 Meter
hoch, verwittert. Der Legende nach ein
Troll, der versteinert wurde. Weil aber die
vielen Vögel, die auf ihm nisten, auch viel
auf ihn kacken, heißt er nicht Versteinerter
Troll, sondern Weißer Kittel.
Am Ufer direkt vorm Felsen gibt eine
Gruppe Chinesen Kameravollgas und
brüllt sich Posieranweisungen zu. Zuerst
denke ich, warum so laut, Leute. Aber die
freuen sich so überschwänglich über den
Felsen und nicken mir grinsend zu, hoch
die Daumen, dass ich meine Strenge fahren
lasse. Ich setze mich in den schwarzen
Sand, schaue auf die Chinesen, auf die See-
hunde im Fjord, auf diesen merkwürdigen
Felsen und fühle mich dermaßen kontem-
plativ, mir fällt noch nicht einmal mehr ein
aufregenderes Wort dafür ein.
Wenn ich auf Vatnsnes schon dachte,
ist aber geistbefreiend reduziert hier, ist die
nächste Halb insel Skagi noch weiter, rauer,
leerer. Im Ort Skagaströnd schlafe ich zum
ersten Mal im Zelt, und der Wind fährt so
schick über die Plane, dass ich mich fühle
wie sanft in einer Wiege geschaukelt. Mor-
gens steige ich auf den Berg hinter dem
Dorf. Von da erkenne ich die Ostküste der
Westfjorde noch besser als gestern. Lange
schaue ich nicht hinüber. Obenrum ledig-
lich bekleidet mit langem Unterhemd,
Hemd, Fleece, Jacke und Windjacke, wird
mir beizeiten frisch im brüllenden Wind,
trotz milder 10 Grad Celsius.
Im Norden der Halbinsel gehe ich zur
Siedlung Kálfshamarsvik, die aufgegeben
wurde, als sich der Fischfang nicht mehr
lohnte. Es gibt ein paar Grundmauerruinen,
ein Kliff aus sechseckigen Basaltsäulen und
Hunderte Küstenseeschwalben, die über-
haupt keinen Bock auf Besuch haben. Ein
paar ihrer Kackbomben treffen. Beim
Rückzug passiere ich neben dem Weg einen
kleinen Vogel mit rostrotem Halsgefieder.
Oh, ein Odinshühnchen, denke ich; und
weil mir das Geschrei der Küstensee-
schwalben und ihre Exkremente auf mei-
ner Jacke noch so vehement im Gemüt
sind, frage ich mich nicht einmal, warum
ich so etwas weiß.
Während meiner Skagi-Etappe finde
ich übrigens auch einen seit 800 Jahren
verschollenen Heldenspeer. In der Stadt
Saudárkrókur bittet man mich, bei der Su-
che zu helfen, es sei wirklich eine enorm
wertvolle Waffe. Auf Island war es nämlich
nicht immer so friedlich wie jetzt auf dem
Arctic Coast Way. Im 13. Jahrhundert
kämpften Clans um die Vorherrschaft. Es
kam zur Schlacht von Örlygsstadir, nur ein
paar Kilometer südlich von Skagi. Am
Ende war Sturrla, Chef des Sturluson-
Clans und Neffe des Sagaschreibers Snorri
Sturluson, tot. Tot war auch die alte, un-
abhängige Verfassung Islands: Der norwe-
gische König nutzte den Zwist, spielte die
Parteien ge gen ein an der aus und krallte sich
am Ende die Insel, ohne einmarschieren zu
müssen. Ebenso dramatisch: In der
Schlacht ging auch Grásída, Sturrlas Speer,
verloren. Und siehe, ich finde die Waffe
tatsächlich in kürzester Zeit. Eine Art Wie-
dergänger von Sturrla nimmt sie von mir
entgegen, prächtig gekleidet nach alter Art
und auf einem Pferd. Das denke ich mir
alles echt nicht aus. Ich hätte auch ein Er-
innerungsfoto gemacht, aber entweder tra-
ge ich diese Spezialbrille und Sensoren-
handschuhe im Virtual-Reality-Raum des
Museums »1238: The Battle of Iceland«
und suche holografische Speere, oder ich
knipse, beides zugleich geht nicht.
Die Suche war durchaus schweißtrei-
bend. Im Innenhof meines Hotels gibt es
ein Wasserbecken zum Baden, gespeist von
einer heißen Quelle. Aber wenn ich Sachen
mache wie ein Held, will ich auch entspan-
nen wie ein Held. Einige Kilometer nörd-
lich der Stadt, direkt am Meer, liegt Grettis-
laug, Grettirs Bad. Grettir der Starke ist ein
Held aus den alten Sagas. Der stieg einmal,
um sich nach einer Schwimmtour durch
den arktisch kalten Fjord aufzuwärmen, in
eine heiße Quelle. Vielleicht in genau diese,
sie trägt zumindest seinen Namen.
Grettislaug ist ein künstlicher Pool, in
dem Thermalquellwasser mit kaltem Was-
ser aus einem nahen Bach auf badefähige
Temperatur gemischt wird, gebaut aus di-
cken Steinen, brusttief, mit Steinbänken an
den Innenseiten. Er liegt auf Bauernland,

A


der Besuch kostet 1000 Kronen, zur Feier
des Tages gönne ich mir ein Bier, noch
mal 1000 Kronen, zusammen rund 15
Euro, der Bauer akzeptiert lächelnd auch
Kreditkarten. Nach drei herrlich ruhigen
Fahrtagen in 40 Grad Celsius revitalisie-
rend, habe ich nichts zu meckern. Die
Dame eines mittelalten deutschen Paares
hat sich ihre Fähigkeit zu kritischem
Denken dagegen noch nicht wegdamp-
fen lassen und moniert den Algen-
bewuchs auf den Einstiegsstufen als Un-
fallgefahrenherd, die Sitzbänke als nicht
passgenau für Kleinwüchsigere und
wünscht sich eine Ablagemöglichkeit für
ihr Telefon in Griffweite vom Pool, je-
doch spritzwassergeschützt. Das brabbelt
sie auf ihren Kerl nieder, doch der sitzt
nur im Wasser und reagiert null. Mir geht
das irgendwann auf den Senkel. Ich gehe
mir ein neues Bier holen. »Aufpassen, das
Geländer wackelt«, warnt sie mich beim
Ausstieg, aber ich gebe nicht zu erkennen,
dass ich Deutsch verstehe.
Das Land zwischen den Halb inseln
Skagi und Tröllaskagi wird von mehreren
Flüssen durchzogen, es sieht nach fettem

Boden aus. Groß die Höfe, groß die Pfer-
deherden. Mit 20, 30 Kumpels stehen die
Tiere hier immer herum. Junge Hengste
rangeln und machen sich wichtig. Fohlen
gucken verschreckt hoch, ob die Mutter
noch in der Nähe ist. Selbst unter Wolken
wirkt die Gegend viel leichter und heller
als die Halb inseln da draußen. Und so
schön dieses üppige Bauernland ist, das
andere gefällt mir besser.
Tröllaskagi ist die gebirgigste der Halb-
inseln. Die Fahrt entlang der Küste, die
Straße hoch über den Klippen, ist ein
Knüller, hinter jeder Kurve faltet sich das
großartigste Panorama überhaupt aus.
Und eine Kurve weiter wieder das groß-
artigste. Ich sehe Wale, ich spreche mit
einem Mann, der erst vor Kurzem Jürgen
Klopp die Hand schüttelte, als der in Dal-
vík zum Heli-Skiing ging. Und ich fahre
nach Akureyri, so etwas wie die Haupt-
stadt des Nordens. Zeitgleich mit mir
kommt jedoch ein Kreuzfahrtschiff an.
Und dann schlendern auf einen Schlag
1000, 1500 Menschen durch die kleine
Innenstadt, und ich will weg. Während
der gesamten 60 Jahre der ersten Besied-

lung Islands um das Jahr 900, heißt es im
Landnámabók, der Chronik über diese
Zeit, seien 400 vor allem norwegische Fa-
milien hergesegelt. Da kann man doch
nicht jetzt so viele Leute an einem einzi-
gen Ort auf einmal an Land lassen.
Gebeutelt von diesem Erlebnis und
begierig, es in möglichst intensivem Kon-
takt mit der Natur zu vergessen, mache
ich einen blöden Fehler: Ich fahre zum
Godafoss-Wasserfall. Der soll sehr beein-
druckend sein. Er ist auch sehr beeindru-
ckend. Aber er liegt ganz nah an der
Ringstraße und nahe an Akureyri. Ich
zähle fast 20 Reisebusse, dazu Pkw und
Wohnmobile sonder Zahl. Dichtes Ge-
dränge auf den asphaltierten Fußwegen
und am Rand des Falles. Niemand setzt
sich hin und guckt bloß. Dabei ist der
Wasserfall wirklich wunderschön. Es
braust der Fluss vor seinen Schnellen, es
brodelt die Gischt, es leuchten Re gen-
bogen darin. Aber hat man sich solchen
Orten nicht früher andächtig genähert,
ihre Schönheit nach und nach in sich ein-
sickern lassen, vielleicht bei einem Pick-
nick? Im Wegfahren denke ich an den
Film Apo ca lypse Now. Darin steigen zwei
Männer einmal von ihrem Boot an Land,
um Mangos zu pflücken. Ein Tiger er-
schrickt sie. »Niemals das Boot verlassen«
ist ihre Lehre; »Niemals den Arctic Coast
Way verlassen« sollte meine sein.
Die Halbinseln Flateyjarskagi und
Tjörnes beruhigen mich wieder. In Húsa-
vík nehme ich einen Anhalter mit, einen
Franzosen aus Bordeaux. Sein Rucksack
ist ziemlich klein, dafür trägt er eine extra
Tasche mit sich, die wirkt schwer und
klirrt. »Du hast nicht Wein von zu Hause
mitgenommen, um hier trotz der Preise
für Alkohol ein würdevolles Camperleben
führen zu können?«, frage ich und meine
es bewundernd. »Das ist billiger Wein«,
sagt er, »aber wenn ich hier erzähle, ich
käme aus Bordeaux und hätte diesen
Wein dabei, dann halten ihn alle wegen
meiner Herkunft sofort für gute Qualität.
Ich tausche dann Flaschen gegen Schlaf-
plätze oder ein Essen, wenn es gut ist.«
Wieder doof, aus Kiel zu kommen.
Nichts zu exportieren außer Rapsöl.
In der Ásbyrgi-Schlucht zelte ich, auf
einem Campingplatz. Freies Campen wie
im übrigen Skandinavien ist auf Island nur
noch in wenigen Gegenden erlaubt, dafür
waren wir irgendwann zu viele, die Flechten
zertraten und wild in die Landschaft defä-
zierten. Am Ende der Schlucht liegt ein
Teich, Enten schwimmen darin, einer der
zauberhaftesten Orte, die ich je gesehen
habe. Ein Paar kommt dazu. Wir schwei-
gen, staunen. Immer wieder ist ein Flappen
zu hören. Die Frau fragt mich, ob ich wisse,
welcher Vogel dieses Geräusch mache, sie

findet es unheimlich. Das ist die Bekassine,
eine Schnep fen art, sage ich, dieses Flappen
entsteht beim Balzen im Sturzflug, wenn
der Vogel die Steuerflügel aufstellt.
Ist mir selbst peinlich, diese Klugschei-
ßerei. Jetzt fällt mir auch das Odinshühn-
chen von Skagi wieder ein. Ich hatte es nie
mit der Ornithologie. Mein Vater aber, und
er versuchte lange, mir sein Wissen weiter-
zugeben, ob ich wollte oder nicht. Ich hielt
es für erfolgreich versenkt. Diese Route holt
es offenbar in Bruchstücken wieder hervor.
Zelten ist toll. Aber was macht man,
wenn es zu kalt ist, um abends lange ma-
lerisch vor dem Lager zu hocken? Ich
stehe wieder auf und fahre gegen Mitter-
nacht, taghell, hinunter zum Dettifoss-
Wasserfall. Es ist bildschön, nur ein paar
Leute, langes Stehen und Staunen über
die Macht des Wassers.
Melrakkaslétta fasst mir alles zusammen.
Es ist die letzte der Halb inseln auf meiner
Strecke. Sie ist die leerste, die kargste, die
abweisendste, nirgends zieht der Wagen eine
längere Staubfahne hinter sich her. Blaue
Schilder weisen entlang von Islands Neben-
straßen auf nahe Gehöfte hin. Werden die
Gehöfte aufgegeben, bleiben ihre Namen
stehen, aber das Gehöft-Symbol wird mit
einem X durcíhkreuzt. Nirgendwo sehe ich
so viele X auf den Schildern wie auf Mel-
rakkaslétta. Der ewige Wind und die Kälte,
die schroffen Steine, das Gefühl des Aus-
gesetztseins: Man muss nicht lange fahren,
um zu verstehen, dass Aufgeben manchmal
die vernünftigste Op tion ist.
Vorm Leuchtturm Hraunhafnartangi
parke ich und gehe das letzte Stück zu Fuß.
Ob der Turm am nördlichsten Punkt Is-
lands steht, ist umstritten, aber egal, ein
Fleck ist hier so weit draußen wie der ande-
re. Der Weg ist voller Treibgut. Rostige
Ölfässer, eine Ninja-Turtle-Socke, blank
gewaschene Stämme aus Sibirien. Und ein
dickes Bündel Fischernetz, schöne Farbe,
tolle Maschengröße. Ich hebe das Paket an,
etwa 20 Kilo, und gehe weiter. Aus dem
Netz könnte man wundervolle Dinge bas-
teln. Einkaufstaschen, Wanddeko, Schlüs-
selanhänger mit dem Hinweis »vom nörd-
lichsten Strand Islands«. Ich wittere Bastel-
spaß, Kunstsinn, Verkaufserfolg. Garantiert
ließe sich ein Business draus machen, dann
käme ich ständig zurück und könnte Leere
atmen, wann immer ich will.
Als ich wieder beim Netz bin, steht dort
ein junges Camperbus-Pärchen. Ob ich
ein Messer hätte. Habe ich, kriegen sie.
Ich denke an einen Splitter im Finger, an
eine verhedderte Anorakkordel. Und dann
schnippeln sie mein Netz entzwei, und jeder
trägt eine Hälfte weg. Doch schon zu voll
auf dem Arctic Coast Way?

A http://www.zeit.de/audio

Hinkommen
Icelandair fliegt mehrmals
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können bis zu sieben Tage ohne
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Ausschau halten
Papageientaucher beim Fischen,
Walflossen beim Abtauchen, Reiter
am Horizont: Es hilft, ein gutes
Fernglas mitzunehmen

Rumkommen
Tipptopp, um unabhängig
überallhin zu gelangen, sind
zu Kleincampern umgebaute
Minivans. Voll ausgestattet
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Aufwärmen
Natürlich muss man auf Island in
mindestens einer heißen Quelle
baden. Und es gibt reichlich
Alternativen zur überlaufenen
Blauen Lagune. Bei der
Orientierung hilft die Website
hotpoticeland.com

ISLAND AUF
EIGENE FAUST

Sightseeing um


Mitternacht,


besser als frieren


Berichtigung


Im Text Air Panik haben wir
vergangene Woche aus einem
Buch von Eva Menasse zitiert.
Das Werk heißt nicht Tiere für
Anfänger, sondern korrekt
Tiere für Fortgeschrittene

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