Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

Ich habe panische Angst davor, was andere über mich


denken. Wie kann ich denn zu mir selbst finden?


Sie haben ein Problem und würden gern darüber sprechen – aber es hat mal wieder keiner Zeit? Dann fragen Sie ELLA!


Liebe Ella,

ich habe das Gefühl, dass mich das
Leben an sich überfordert. Ich fühle
mich verloren, ganz tief in mir selbst,
kann oft kaum in Worte fassen, was
eigentlich mit mir los ist. Mein Leben
besteht gefühlt nur aus Baustellen, an
denen ich am liebsten immer gleich-
zeitig arbeiten würde. Aber weil mich
das dann noch mehr anstrengt, kom-
me ich oft zu gar nichts.
Dinge, die ich nicht kontrollieren
kann, stressen mich. Ich glaube, das
hat damit zu tun, dass ich sehr früh
im Leben einen Verlust erlebt habe,
der für immer alles verändert hat.
Unvorhergesehenes kann mich voll-
ends aus der Bahn werfen. Zum Bei-
spiel wenn man mit anderen verabre-
det ist und die dann plötzlich einfach
den Plan ändern. Oder wenn ich et-
was kochen will und dann feststelle,
dass eine Zutat schon am Gammeln
ist. Absolut schrecklich für mich.
Manchmal gehe ich dann schon
nachmittags ins Bett, weil der Tag für
mich gelaufen ist.
Hinzu kommt, dass ich sehr neu-
rotisch sein kann, was ja irgendwie
auch dazu passt. Ich lege mir jeden
Abend raus, was ich am nächsten Tag
anziehe, hasse es, bei anderen zu über-
nachten, weil ich nicht weiß, was da

alles passieren könnte, und verbringe
mehr Zeit mit dem Planen von Din-
gen als mit der Aktivität an sich.
Ein anderer Punkt, der eine (zu)
große Rolle zu spielen scheint, ist,
dass ich ständig, wirklich ständig, pa-
nische Angst davor habe, was andere
über mich denken. Zum Beispiel
wenn ich mit der Bahn fahre und
mich jemand anschaut und ich di-
rekt denke: Habe ich vergessen, eine
Hose anzuziehen? Hab ich mich ir-
gendwie unangemessen verhalten?
All das erdrückt mich und lässt mir
keine Ruhe, auch nachts nicht. Ich
habe immer Angst, etwas falsch oder
schlecht zu machen.
Dabei würde ich einfach nur ger-
ne zu mir selbst finden. Kannst Du
mir dabei helfen?
Eine, die es mit sich aushalten
können will

Liebe Eine, die es mit sich
aushalten können will,

puh, das klingt in der Tat ganz schön
anstrengend. Ich kann das, was Du
beschreibst, gut nachvollziehen. Die
Angst, alles falsch oder schlecht zu
machen, ist mir bestens vertraut.
Und in Phasen, in denen es mir deut-
lich schlechter ging als heute, hat mir
das sehr zugesetzt. Es gibt dazu auch

einen kleinen Schwank aus meinem
Leben. Er geht so: Ich stand morgens
mit einem Vorgesetzten im Aufzug,
und wir schwiegen. Fertig.
Zum Schwank wird die Begeben-
heit durch das, was den Nachmittag
über in meinem Kopf los war. Ich
fragte mich: Warum hat er mich nicht
angesprochen? Hätte er nicht freund-
lich Konversation machen können,
genau genommen sogar müssen,
wenn er mich auch nur ein kleines
bisschen wertschätzen würde? Erleb-
te ich ihn nicht ständig in Gespräche
mit anderen vertieft, gerade auch im
Aufzug? War ich es nicht wert, dass
man sich mit mir unterhält? Wann
hatte mich überhaupt zuletzt jemand
im Aufzug angesprochen?
Es gibt auch noch eine Pointe. Als
ich am Abend meinem Mann davon
erzählte, schloss ich die Ausführungen
zur Fahrstuhlbegegnung und die da-
raus zu ziehenden Schlussfolgerungen
mit einem Detail, dem ich bisher keine
Bedeutung beigemessen hatte: »Gut,
ich hatte auch Kopfhörer auf.« Ver-
mutlich halten mich inzwischen sämt-
liche Kollegen im Haus für eine arro-
gante Schnalle, die nicht mal dann die
Stöpsel aus den Ohren nimmt, wenn
jemand den Fahrstuhl betritt.
Damit will ich nicht sagen, dass
Du für das, was Du um Dich he-

rum wahrnimmst, die Verantwor-
tung trägst. Aber vielleicht hast Du
wenigstens kurz lachen müssen,
manchmal klappt das sogar dann,
wenn es einem gerade miserabel geht.
Worauf ich eigentlich hinauswill,
ist: Die Missachtung durch andere
kann quälend sein, selbst wenn sie
nur im eigenen Kopf stattfindet. Der
Zutat, die hinter Deinem Rücken im
Kühlschrank einfach schlecht gewor-
den ist? Bist Du egal. Den Freunden,
die sich darüber hinwegsetzen, wie
Du Dir den gemeinsamen Abend
vorgestellt hast? Dito. Das tut weh.
Ich habe mich in besagten Phasen
wie ein schrumpeliges Gummitier
gefühlt, aus dem die Luft entwichen
ist, kraftlos und unfähig, sich gegen
egal was zur Wehr zu setzen.
Du vermutest, dass Dein Ge-
mütszustand mit einem frühen Ver-
lust zu tun hat. Und vielleicht ist das
tatsächlich Dein Leck, die undichte
Stelle. Du solltest Dir professionelle
Hilfe suchen, um dem auf den
Grund zu gehen. Denn so gern ich
wollte: Ich kann Dir leider nicht da-
bei helfen, es mit Dir selbst auszu-
halten. Das übersteigt sowohl meine
Kompetenzen als auch die Möglich-
keiten einer Ratgeberkolumne.
Was ich Dir versichern kann, ist,
dass nichts von dem, was Du schreibst,

danach klingt, als seist Du eine ab-
sonderliche Kreatur, die aus niederen
Beweggründen hosenlos im öffentli-
chen Personennahverkehr herum-
streunt. Bestimmt kann man es ganz
hervorragend mit Dir aushalten. Du
bist einfach ein Mensch, der gerade viel
fühlt, viel hadert und womöglich dabei
ist, in eine Depression zu schlittern,
vielleicht bist Du auch schon mitten-
drin. Fühlt sich grauenvoll an, ist aber
kein Verdikt.
Du bist ein liebes Gummitier, aus
dem die Luft entwichen ist. Was Du
brauchst, ist jemand, der eine Pumpe
hat und die Dinge gemeinsam mit Dir
sortiert. Mach das! Es wird Dir guttun.
Deine Ella

Schreiben Sie uns!
Sie haben Mist gebaut? Sie wären
gern anders, aber wissen nicht, wie?
Ella lässt sich was für Sie einfallen.
Ella ist ZEIT-Redakteurin mit
abgebrochenem Psychologiestudium
und vielen Stunden Tresentherapie-
Erfahrung. Schreiben Sie ihr offen
und angstfrei unter einem
Pseudonym Ihrer Wahl per Mail
an [email protected]
oder über Instagram unter @zeit_ella

Ein Hase


Doris Dörrie sammelt
auf Reisen seltsame Dinge.
Diesmal im Allgäu

I


ch tat es wieder, obwohl ich mich nie wieder
hatte hinreißen lassen wollen. An einem lang-
weiligen Sonntagnachmittag auf dem Land
las ich von einem Flohmarkt und war nicht
mehr zu bremsen. Mein Mann kauft generell
nicht gern ein, aber begleitet mich manchmal treu.
Er gehört zu den Männern, die man in Klamotten-
läden sitzen sieht wie in einer Art Vorhölle, in sich
zusammengesunken, ohne Hoffnung, aber stoisch,
heldenhaft. Auf den Flohmarkt begleitete er mich
nur unter der Bedingung, dass ich auf gar keinen
Fall irgendeinen sinnlosen Schund kaufen würde.
Eifrig versprach ich es ihm, denn ich hab wirklich
zu viel unnützen Kram. Bei mir funktioniert das
Prinzip der weltweit aufräumenden Bestseller-
Autorin Marie Kondo, nur Gegenstände zu be-
halten, die einem Freude bringen, ein bisschen zu
gut. Für mich gilt: je unnützer, desto schöner!
Lange hielt ich mich diszipliniert zurück – aber
dann begegnete mir der Hase, und es war um mich
geschehen. Eine Porzellankaraffe in der Form eines
Hasen, der Karotten im Arm trägt – was könnte
unnützer und schöner sein? Es kamen die üblichen
Einwände meines Mannes, »Was willst du mit dem
Ding? Du wirst nie Wasser daraus trinken!«, wo-
rauf sich die Verkäuferin einmischte: Man könne
auch sehr gut Bier aus dem Hasen trinken, oder
Fruchtsaft. Oder Möhrensaft, schlug ich vor. Mein
Mann erinnerte mich an mein Versprechen, und
ich steckte die fünf Euro, die der Hase kosten sollte
(bloß fünf Euro!!!), zurück. Aber er ließ mir keine
Ruhe. Wie kommt jemand auf die Idee, eine Por-
zellankaraffe in der Form eines Hasen herzustellen?
Denkt er sich, es wäre einfach irre schön, aus dem
Inneren eines Hasen Wasser zu schlürfen? Wie viele
von diesen Hasen gibt es auf der Welt? Wer außer
mir hatte sich bereits in diesen Hasen verliebt? Und
wurde er aussortiert, weil seine bizarre Schönheit
nicht mehr geschätzt wurde? Es half nichts: Ich
musste ihn haben. Mein Mann ergab sich helden-
haft. Der Hase steht jetzt wunderschön und unnütz
bei uns herum. Und ja, it sparks joy. Und zwar stän-
dig und im Übermaß.


AUS MEINEM
HANDGEPÄCK (37)

Doris Dörrie, 64, ist Regisseurin und
Schriftstellerin. Ihre Kolumne erscheint im Wechsel
mit »Das gehört nicht ins Feuilleton« Illustration: Sergio Membrillas für DIE ZEIT; kl. Fotos: Doris Dörrie, Dieter Mayr

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  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 33 53


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