Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

ENTDECKEN


W


enn ich Leuten von meinem Job er-
zähle, denken viele, ich würde durch
die Straßen ziehen, sobald es dunkel
wird, ein Bier in der Hand, und
Prügeleien zwischen Betrunkenen schlichten.
Das mit dem Schlichten stimmt, zumindest im
weitesten Sinne. Der Rest ist Quatsch.
Ich bin Deutschlands erster Nachtbürger-
meister, in Mannheim, seit einem Jahr angestellt
bei einem Start-up, das der Stadt gehört. Dort
kümmere ich mich um Konflikte rund ums
Nachtleben – aber nüchtern und tagsüber. Oft
im Fokus meiner Arbeit steht Jungbusch, ein
Stadtteil, der früher total abgerockt und unbe-
liebt war. Dann kamen Kreative, Künstler, Cafés,
Bars und Clubs. Heute ist Jungbusch das ange-
sagteste Partyviertel der Stadt. Vor allem die
jungen Leute lieben es. Und viele Anwohner
sind davon ganz schön genervt.
Dabei gehört Partykultur zur Stadt. Mann-
heim war Vorreiter für Drum and Bass in
Deutschland, wir haben hier eine extrem gute
Techno- Szene, und die Unesco hat uns zur »City
of Music« ernannt. Nur haben wir nicht so viel
Platz wie Berlin. Es sind viele junge Leute auf
relativ kleinem Raum. Klar, dass es da manchmal
Stress gibt.
Ich glaube, dass ich der Richtige bin für den
Job. Beim Bewerbungsgespräch habe ich gesagt:
Mein größter Vorteil ist, dass ich nicht aus
Mannheim komme. Ich bin neutral. Kein Politi-
ker, kein Gastronom. Ich bin 28, kenne mich im
Nachtleben aus, habe meine eigene Booking-
Agentur, arbeite also selbst in der Szene, und bin
gut vernetzt. Und ich wohne in Jungbusch, ken-
ne die Probleme dort aus meinem Alltag.
Anfangs dachte ich etwas naiv, ich könnte
direkt wahnsinnig viel bewegen. Ich hatte kras-
sen Tatendrang, wollte Flächen für Konzerte
schaffen, neue Konditionen für Außengastros
aushandeln, dunkle U-Bahnhöfe ausleuchten.
Aber ich habe bald gemerkt: Es geht nur sehr
langsam voran, egal wie sehr man sich reinhängt.
Das braucht alles Zeit, die Nachtszene ist in un-
serer Gesellschaft eben doch etwas verpönt. Da-
bei ist eine gute Club- und Barkultur total wert-
voll. Für alle! Wenn sich Anwohner über Besof-
fene beschweren, die nachts vor dem Schlafzim-
merfenster herumtorkeln und -grölen, kann
man aber natürlich nicht einfach sagen: Der
Typ, der an Ihre Hauswand pisst, ist schützens-
werter Teil einer wichtigen Kulturszene.
Es ist gar nicht so einfach, Kompromisse zu
finden und Anwohner zu besänftigen, die nachts
kein Auge zumachen. Ich habe das erste Jahr
ziemlich viel geredet. Mit Gastronomen, Veran-
staltern, Anwohnern, dem Ordnungsamt und
der Polizei.
Mein größtes Anliegen war es, die Leute an
einen Tisch zu bringen. Seit alle mehr mit ein an-
der sprechen, machen wir echte Fortschritte.
Wir haben Konzerte in U-Bahn-Tunneln veran-
staltet, eine Studie übers Nachtleben durchge-
führt und eine Initiative für öffentliche Toiletten
angestoßen. Dazu haben wir viele spaßige Ak-
tionen gemacht, zum Beispiel verschenken wir
nachts an die Feiernden Katerboxen mit Trau-
benzucker, Kondomen und Brühwürfeln. Wich-
tigster Schritt aber war die Verabschiedung der
Jungbusch-Vereinbarung. Ein im Rathaus ge-
schlossenes Abkommen darüber, wie wir im
Viertel künftig mit ein an der leben wollen.
Der einzige Nachteil an meinem Job: Ich
kann nur schwer einen Kollegen um Ratschläge
bitten, weil ich in Deutschland keinen habe.
Immerhin gibt es im Ausland schon einige
Nachtbürgermeister, in New York, Amsterdam
und London zum Beispiel. Mit manchen davon
bespreche ich mich hin und wieder. Im Herbst
veranstalte ich die erste Nachtkulturkonferenz,
um Kommunen zu informieren, wie auch sie ei-
nen Nachtbürgermeister einstellen können.
Die Leute sehen langsam, dass mein Job kein
PR-Gag ist, sondern wirklich etwas bringt. Un-
ser Team wächst stetig. Vielleicht kann ich mich
ja bald mit dem ersten deutschen Amtskollegen
austauschen.


... Nacht bü rger­


meister zu sein


WIE ES WIRKLICH IST

Hendrik Meier, 28,
arbeitet als erster
Nachtbürgermeister Deutschlands
in Mannheim

Frühmorgens, beim Gang zum Zeitungskasten,
treffe ich oft unseren Kater, wenn er von seiner
nächtlichen Jagdtour zurückkommt. Er springt
mir dann auf den Rücken und lässt sich nach
Hause tragen – und ich komme mir vor wie die
Hexe Kaukau aus meiner Kinderzeit.
Kennt die eigentlich noch jemand?, fragt sich
Ute Claussen, Berlin

Am ersten Schultag vor der neuen Klasse zu
stehen und erleichtert festzustellen, dass auch
diese Kinder wieder liebenswert sind.
Kati Lachmann, Uckerland, Brandenburg

Die Morgenrunde im Büro ist fast zu Ende.
Der Abteilungsleiter fragt, ob es sonst noch
etwas mitzuteilen gibt. Da tritt ein älterer
Kollege nach vorne und räuspert sich. »Ich
hatte ja gestern einen freien Tag, und den hab
ich gut genutzt.« Er hält seine Hand hoch, die
Kollegen verstehen nicht gleich. Er sagt: »Ich
hab meine Ebba geheiratet!«
Stella Essmann, Osnabrück

Nach dem Urlaub: Ich drückte meiner Mutter
das iPad in die Hand und sagte: »Hier sind ein
paar Bilder. Mit dem Zeigefinger kannst du
durch Wischen weiterblättern.« Sie tat sich
etwas schwer, leckte aber nach dem dritten
Foto todesmutig ihren Finger an, um besser
blättern zu können. Schuldbewusst stellte ich
fest, dass meine Erklärung wohl ein wenig zu
nachlässig war für eine über Achtzigjährige.
Unendlich geliebt aber habe ich sie für diese
Geste von damals her.
Ralf Bähre, Hamburg

Aus der Entfernung vernehme ich ihre Stimme.
Wie aus einem Reflex heraus drehe ich mich
um und versuche durch die Menschenmenge
hindurch die Quelle dieser Stimme auszu-
machen. Sie steht hinter dem Café-Tresen des
Rasthofs, mich dagegen hat es in die Schlange
der Fast-Food-Kette verschlagen. Schon ärgere
ich mich, mich so entschieden zu haben, wo
doch der Café-Tresen auch Essen anbietet.
Es ist eine unerklärliche Ausstrahlung, die
mich in ihren Bann zieht. Sie lächelt. Sie
lächelt mit jeder Faser ihres Körpers. Ihr
Lächeln ist echt. Sie steht dort, hinter dem
Tresen, trocknet das Besteck mit dem Hand-
tuch, und um ihren Mund spielt dieses kleine,
verschmitzte Lächeln. Von draußen strömen
neue Besucher herein. Viele machen einen
abgekämpften Eindruck, was bei Außen-
temperaturen von fast 40 Grad Celsius nicht
verwunderlich ist. Doch sie schenkt jedem
Einzelnen ihr wundervolles Lächeln und ihre
ganze Aufmerksamkeit.
Ich kenne sie nicht. Ich werde in den nächsten
Minuten diesen Rasthof verlassen und sie nie
wiedersehen. Und doch werde ich bestimmt
noch eine ganze Weile an sie denken, weil sie
mir nach dieser anstrengenden, heißen Woche
voller Enttäuschungen etwas Hoffnung
gegeben hat. Nur durch ihr Lächeln.
Björn McCreight, Kelkheim im Taunus

Im Urlaub hörte ich beim Joggen um den
wunderschönen Achensee Musik über You-
Tube. Der Zufallsgenerator spielte I Wish You
Were Here von Alpha Blondy. Sofort waren die
Gedanken bei meinem Sohn (Fabian ist 2010
im Alter von 16 Jahren verstorben). Was für
ein schöner Moment der Erinnerung!
Stefan Menzel, Köln

Es ist kühler geworden. So hole ich, mitten im
Hochsommer und das erste Mal seit der
Rückkehr aus dem Pfadfinderlager, ein Paar
Socken aus meinem Kleiderschrank. Als ich
sie anziehen will, fällt mir plötzlich Gras und
Heu entgegen: ein Mitbringsel von meinem
sechsten und bisher schönsten Sommerlager!
Ida Auzinger, 13 Jahre, Wels, Oberösterreich

Im Oxfam-Buchladen übergebe ich mehrere
Tüten Bücherspenden. Es sind Titel wie
Unver schämt, Richtig kommen, Hosen runter,
Fremdgehen und Glücklich getrennt, weshalb
ich das Bedürfnis habe, mich (ich bin
Rezensen tin) zu erklären. »Bevor Sie jetzt
denken, ich habe einen Knall ...«, setze ich an.
Harsch unterbricht mich die dort ehrenamt-
lich tätige Dame: »Leute, die viel lesen, haben
alle einen Knall!« Wieder was gelernt ...
Heidrun Küster, Stuttgart

Das geschäftige Klappern des Kochgeschirrs,
der Essensgeruch, das bloße Dasitzen zwischen
Zeltschnüren auf trocken-braunem Gras: Er-
inne run gen an die Reisen in den Süden. Und
das auf meinem täglichen Nachhauseweg, nur
beim Passieren unseres städtischen Camping-
platzes.
Karsten Mohr, Oldenburg

Leben


Wa s mein


reicher macht


Estelle ist ein zweieinhalb Jahre altes Hausschwein und lebt in North Carolina. Sie kann 25 verschiedene Laute von sich geben – je nach Laune. Fotografiert von Evan Kafka

(Folge 165)


Du siehst aus, wie ich mich fühle


Wenn Sie in unserer Rubrik »Wie es wirklich ist«
berichten möchten,
melden Sie sich bei uns: [email protected]

Machen Sie mit!
Schreiben Sie uns, was Ihr Leben reicher macht,
teilen Sie Ihre »Wortschätze« und
»Zeitsprünge« mit uns.
Beiträge bitte an [email protected] oder an
DIE ZEIT, Ressort Z, Leserseite, 20079 Hamburg

»Feierabend«


Ich liebe das Wort Feierabend. Jedes Mal, wenn ein Kollege oder eine Kollegin


mir einen schönen Feierabend wünscht, stelle ich mir unser ganzes


Team auf den Tischen tanzend und Konfetti werfend vor. Und gerade jetzt im
Sommer, wenn man bis spät in der Nacht draußen sein kann, ist so ein

Abend ohne Arbeit auch einfach ganz besonders feierwürdig.


Inga Hilbig, Leipzig


MEIN WORTSCHATZ

1979/2016: Die Schultüte


Als unsere älteste Tochter 1979 in die Schule kam, spendierte ihr die Oma eine Schultüte. Die war so stabil und
mit ihren Schmetterlingen auch schön, dass wir sie aufbewahrten und bei der Einschulung ihrer Schwestern
1981 und 1984 wieder hervorholten. Inzwischen haben wir acht Enkelkinder, und alle trugen die Familienschultüte
mit Stolz. Eine Ausnahme machte Leon, 2009, dem die von der Kindergärtnerin gebastelte Tüte näherlag.
Ob unsere gute alte Schmetterlingsschultüte wohl auch von der nächsten Generation genutzt werden wird?
Volker Wille, Hannover

ZEITSPRUNG

Illustration: Eva Revolver/ Sepia für DIE ZEIT; kl. Fotos: Privat

54 8. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 33

Free download pdf