Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1
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  1. August 2019 DIE ZEIT No 33


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BILDUNG WISSENSCHAFT BERUFBILDUNG WISSENSCHAFT BERUF

CHANCEN

A


m Neuen gymnasium Rüs-
selsheim hängt ein schild,
»samsung Lighthouse school«
steht darauf, »Digitale Bildung
neu denken«. Der Lehrer Ben-
jamin seelisch sitzt vor einer
elften Klasse und zeichnet mit
einem stift zwei Kaninchen auf ein tablet. sie er-
scheinen auf dem Whiteboard hinter ihm. Die
Klasse lacht. sieht ulkig aus. Bio - unter richt,
Merkmalsvererbung, Mendelsche Regeln. Vor den
schülern liegen tablets, wie seelisch eines in der
Hand hält. samsung galaxy tab A.
Die geräte gehören den schülern, sie haben
sie von samsung erworben, zu einem reduzierten
Preis, weil ihre schule mit dem unternehmen
drei Jahre lang eine vertragliche Kooperation
hatte. Auch Whiteboards hat die schule günsti-
ger kaufen können. samsung hat die dazugehöri-
ge schulung für die Lehrer übernommen. Die
Kooperation ist mittlerweile ausgelaufen, die
tablets und Whiteboards sind noch da.
Was aussehen mag wie der verwegene traum
der samsung-Marketingabteilung, ist längst
Realität in der deutschen schullandschaft. It-
Konzerne bauen schulen digital aus, es gibt
Kooperationsangebote von Microsoft, google
und Apple. sie fördern, bezuschussen oder be-
zahlen die Ausstattungen im Klassenraum und
die schulungen für Lehrer. Die Konzerne haben
eine Lücke entdeckt, und schulen, die seit Jah-
ren unter dieser Lücke leiden, nehmen ihre
Hilfe sehr gern an.
In den kommenden Jahren wird viel geld in
die Digitalisierung der schulen fließen, ein gro-
ßer Markt entstehen. schon jetzt zeichnet sich
ab, wie ungleich der Wettlauf zwischen denen
ist, die die Digitalisierung umsetzen sollen, und
denen, die es können: der Politik und den un-
ternehmen. Eigentlich soll der Digitalpakt, der
nach zwei Jahren Verhandlung im Mai in Kraft
getreten ist, den Ausbau an den schulen voran-
treiben. Doch die Internet-Konzerne sind schon
längst dabei, sie haben geld, sie sind schnell,
und sie haben ein ausgefeiltes Angebot für digi-
tales Lernen.

Doch wer entscheidet, welche unternehmen
zum Zuge kommen? Die schulen selbst – oder
die Politik?
Wie eine schule aussieht, wenn die schnellen
übernehmen, zeigt das Neue gymnasium Rüs-
selsheim: Videoanalyse im sportunterricht, gra-
fendiagramme im Matheunterricht – digitales
selbstverständnis. Doch die schule zeigt auch,
welche Nebenwirkungen solche Kooperationen
mit sich bringen können.
Mit wie viel geld etwa samsung das gymna-
sium bezuschusst hat, verrät bis heute weder das
unternehmen noch die schule. sie haben einen
Vertrag abgeschlossen, über dessen Inhalt aber
sprechen sie nicht. Weil samsung ein »schutz-
würdiges Interesse« habe, rede die schule nicht
über den Vertrag, erklärte die schulleitung sogar
gegenüber der gewerkschaft Bildung und Er-
ziehung.
Auch über weitere vertragliche Details ist in
Rüsselsheim wenig bekannt. Der kommunale
schulträger erklärt, ihm liege der Vertrag gar
nicht vor. Man sei »prinzipiell informiert« gewe-
sen, »aber nicht weiter in den Prozess eingebun-
den«. Auch das hessische Kultusministerium
wusste von der Kooperation. Das Dokument
habe man dort aber erst nach Abschluss gesehen.
Dabei sei dann aufgefallen, dass vertraglich
festgelegt wurde, dass Lehrkräfte auf Messen für
samsung auftreten sollten.
Was sie natürlich nicht dürften, das besagt das
Neutralitätsgebot. Das Ministerium sagt, nach
seinem Kenntnisstand sei es zu den Messeauf-
tritten nie gekommen. Der Kreis groß-gerau,
der auch der kommunale schulträger ist, sagt:
»solche Kooperationen sind heutzutage ein
stück Normalität.«
Die digitale Normalität in den Klassenräu-
men – sieht sie so aus? Eine öffentliche schule,
die von einem It-unternehmen gesponsert
wird und darüber keine Auskunft gibt? Ein Ver-
trag, der laut Aussagen des zuständigen Bil-
dungs minis te riums das Neutralitätsgebot von
schulen verletzt?
In Deutschland ist das noch lange keine
Normalität, und doch weist der Fall aus Rüs-

Ein gespräch mit


der schriftstellerin


siri Hustvedt über


Wissenschaft


seite 57

Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT; Foto: Rüdy Waks/modds

Jede dritte Schule
im Land wartet
noch auf WLAN

selsheim auf eine der wichtigsten bildungspoliti-
schen Fragen der Zeit hin: Wie wird die Digitali-
sierung an den schulen aussehen? und wer ent-
scheidet darüber?
Die schulen müssen ihre Infrastruktur so
grundsätzlich umstellen wie nie zuvor. und sie

müssen das unter hohem Zeitdruck, sie hängen in
der Digitalisierung seit Jahren hinterher. und das
nicht nur im Vergleich zu vielen europäischen Län-
dern, sondern auch im Verhältnis zur Lebenswirk-
lichkeit ihrer schüler. Denn rund 95 Prozent der
Jugendlichen besitzen heute ein smartphone, wäh-

rend jede dritte schule im Land noch nicht einmal
einen WLAN-Anschluss besitzt. Noch immer feh-
len vielen schulen die Breitbandanschlüsse und
vielen Lehrern die Fortbildungen.

Fortsetzung auf s. 56

Im Februar dieses Jahres hat der
Bundestag den Digitalpakt
beschlossen. Dieser ermöglicht
es dem Bund, technische geräte
und Internet-Leitungen für die
40.000 schulen des Landes zu
finanzieren. Über fünf Milliar-
den Euro stellt die Regierung für
WLAN, Computer und digitale
Lerninhalte zur Verfügung.
Dafür war eine grundgesetz-
änderung nötig. Denn bislang

musste sich der Bund aus den
schulen heraushalten. Im
Bildungs föderalismus sind sie
Länder sache. Das geld wird
nun nach einem schlüssel auf
die Länder verteilt, deren
Ministerien über die Vergabe
an die schulen entscheiden.
Heruntergerechnet sind es
pro schüler 500 Euro,
verteilt auf einen Zeitraum
von fünf Jahren.

Viel Geld


fürs Netz



Wer darf


mitmachen?


It-Konzerne gehen Kooperationen mit schulen ein. sie treiben die Digitalisierung


voran, aber diese Hilfe hat ihren Preis VON HANNAH KNUTH UND ASTRID EHRENHAUSER

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