Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 33 CHANCEN 57


DIE ZEIT: Frau Hustvedt, wir unterhalten uns in
Hamburg, aber eigentlich wollen sie sonst am
liebsten bei sich zu Hause in Brooklyn interviewt
werden. Warum eigentlich?
Siri Hustvedt: so habe ich mehr Zeit zum Arbei-
ten. Ich muss nur die treppe in unserem Haus
runtergehen und kann danach direkt wieder hoch
in mein Arbeitszimmer.
ZEIT: Fürchten sie, dass Ihnen die Zeit davonläuft?
Hustvedt: Ich bin nicht todkrank, falls sie das jetzt
denken. Es hat aber mit dem Alter zu tun: Je älter
du wirst, desto mehr merkst du, dass da sehr viel
weniger Zeit noch vor dir liegt. Ich möchte meine
mentale Kapazität so gut wie nur möglich nutzen.
Jedes Mal, wenn ich ein Buch beende, denke ich:
Oh, ist das toll, dass ich das fertig machen konnte.
Bin ich froh, dass ich lang genug gelebt habe!
ZEIT: sie gehören zu den angesehensten schrift-
stellern der usA und erhalten Auszeichnungen für
Ihre neurowissenschaftlichen Fachartikel. trifft Ihr
Arbeitsdrang gleichermaßen auf literarische wie
auf wissenschaftliche texte zu?
Hustvedt: Ja, beides ist fester teil meines Lebens.
Ich bin sozusagen selbst halb und halb.
ZEIT: In Deutschland ist vor Kurzem Ihr Essay-
Band Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen
schauen erschienen. Darin sind unter anderem
texte zu Fragen der Neurowissenschaft, Philo-
sophie und Psychologie gesammelt. sie haben sich
tief in diese Fachgebiete eingearbeitet. Nerven sie
ab und zu auch Wissenschaftler? Eben weil sie
halb schriftstellerin sind?
Hustvedt: Wenn ich zu einer Konferenz als Red-
nerin eingeladen werde, dann mögen die Neuro-
logen und Ärzte dort meistens ohnehin schon, was
ich geschrieben habe.
ZEIT: Was wünschen sich Wissenschaftler oder
Ärzte von Ihren Vorträgen?
Hustvedt: Normalerweise stelle ich Fragen, die sich
nicht nur auf ein wissenschaftliches Feld reduzieren
lassen. Ich bin keine Neurowissenschaftlerin, aber
ich habe ein gut einsetzbares Wissen von den Neuro-
wissenschaften. Ich bin keine Philosophin, aber ich
habe gute grundlagen in westlicher Philo sophie.
Mit meinen Fragen suche ich nach Antworten, die
sich aus einem Austausch zwischen geistes- und
Naturwissenschaften ergeben können.
ZEIT: Erfahren sie keinen Widerstand? Etwa von
Wissenschaftlern, die nicht einsehen, warum sie
sich in ihre Disziplin einmischen?
Hustvedt: Meistens weiß ich sehr viel. und sobald
es klar ist, dass du jemand bist, der sich gedanklich
leicht bewegt und mindestens so viel weiß wie sie,
ist das kein großes Problem. Wichtig ist auch: Ich
konkurriere natürlich nicht mit anderen Wissen-
schaftlern um geld.
ZEIT: sie meinen, sie benötigen keine Forschungs-
mittel, die sie wem anders wegschnappen?
Hustvedt: genau. Mir geht es nur um neue Ideen.
ZEIT: Im April wurden sie in Lausanne für Ihren
Essay Die Illusion der Gewissheit mit dem Euro-
päischen Essay-Preis der Fondation Charles Veillon
ausgezeichnet. Der text, der in Deutschland als
Buch erschienen ist, wurde von einigen als Angriff
auf die Neurowissenschaften verstanden.
Hustvedt: Ich habe auf Erklärungslücken aufmerk-
sam gemacht. Neurowissenschaften und Psychiatrie
unterscheiden zwischen geist und gehirn. Es geht
immer darum: Was ist physisch und was psychisch?


ZEIT: sie fragen grundsätzlicher: Ist die Aufteilung
in geist und gehirn überhaupt sinnvoll?
Hustvedt: Für mich reicht sie nicht aus. Bei der
Verleihung des Preises habe ich eine Rede darüber
gehalten, was ich erlebt habe, als ich am Massachu-
setts general Hospital in Boston eingeladen war,
die »grand Rounds« zu machen.
ZEIT: Das ist eine Ehre. Die grand Rounds sind
eine medizinische tradition. Ein bedeutender Arzt
wird gebeten, eine große Analyse-Runde mit den
ansässigen Ärzten durch die Krankenstationen zu
machen. und das Massachusetts general Hospital
ist das älteste und größte Lehrkrankenhaus der
Medizinischen Fakultät der Harvard university.
Hustvedt: Man kann es sich direkt vorstellen: der
Mann mit dem langen, weißen Bart. gefolgt von
den anderen Männern in weißen Kitteln, die in
großer Runde herumstehen. Die Art von grand
Rounds, die ich schon einige Male gemacht habe,
ist aber anders. Ich habe eine Rede vor der neurolo-
gischen Abteilung gehalten. Danach fragte mich ein
Arzt: Warum glauben sie, es sei für jemanden wie
mich wichtig, mich mit Philosophie und Literatur
zu beschäftigen?
ZEIT: und was haben sie ihm gesagt?
Hustvedt: sicher nicht, weil ich denke, dass sie
dann charmanter bei Cocktailpartys rüberkom-
men werden. Was sie aber übrigens werden! Ich
rate es Ihnen, weil ich glaube, es wird Ihnen bei
Ihrer eigentlichen Arbeit helfen. ganz besonders
dabei, einen theoretischen Rahmen für Ihre Ideen
zu entwickeln. Eine bestimmte Art von Nicht-
spezialisierung kann unglaublich helfen, im eige-
nen Fachgebiet voranzukommen.
ZEIT: spezialisierung ist bei Ärzten aber ja nicht
gerade ein Problem.
Hustvedt: Natürlich nicht! Keiner will einen Chi-
rurgen, der nie zuvor eine OP gemacht hat. Wir
wollen den, der das immer wieder und wieder ge-
schafft hat. Den Experten. gleichzeitig kann es bei
theoretischen Fragen, zum Beispiel in Bezug auf
Krankheiten wie Alzheimer, wo uns vieles an
Wissen noch fehlt, sehr helfen, gängige Modelle
durchzurütteln. Vielleicht festzustellen, dass damit
etwas nicht stimmt und wo eine Herangehens weise
verändert werden sollte. Das Lesen von philo-
sophischer Literatur oder auch Medizingeschichte
macht den geist elastischer, und man sieht plötz-
lich Dinge, die man im Arbeitsalltag nicht sehen
kann. Warum gibt es etwa noch keine Roboter-
staubsauger?
ZEIT: gibt es die nicht schon?
Hustvedt: Die, die bis jetzt gebaut wurden, funk-
tionieren nicht gut. und warum? Wir können uns
nicht nachbauen, weil wir zu wenig über uns wissen:
Wir sind nicht nur der denkende geist und der aus-
führende Körper. Robotern fehlt deshalb der rich-
tige sinn für den Raum. Wir alle haben ihn, fühlen
eine Verbindung zu den Dingen um uns herum.
ZEIT: Das erinnert mich an das gefühl, das man
haben kann, wenn einen jemand anstarrt.
Hustvedt: Es gibt einen Wissenschaftler, der genau
das erforschen wollte. Es gibt ja einige Menschen,
die Blicke fühlen. Wenn ich in der u-Bahn lese
und mich jemand anschaut, dann spüre ich das
auch! Dieser Wissenschaftler, ich sage jetzt nicht
seinen Namen, forschte dazu und wurde dann
aber nach und nach nicht mehr ernst genommen.
ZEIT: Warum das denn?

Die Schriftstellerin


Wirken
siri Hustvedt, 64, hat einen
gedichtband, Romane und mehrere
Essaysammlungen veröffentlicht.
Mit ihrem dritten Roman, dem
internationalen Bestseller »Was ich
liebte« (2003, Rowohlt), wurde die
amerikanische schriftstellerin einem
größeren Publikum bekannt.
Hustvedt widmet sich seit vielen
Jahren in Essays grundsätzlichen
Fragen der Philosophie, Neurologie
und Psychologie. sie unterrichtet
auch Psychiater und hält
Vorträge vor Medizinern und
Wissenschaftlern in der ganzen Welt.
Ihre Arbeit wurde mehrfach mit
Preisen ausgezeichnet. Hustvedt lebt
mit ihrem Mann, dem schriftsteller
Paul Auster, in New York. Die
beiden sind seit 1982 verheiratet.
Ihre gemeinsame tochter ist
schauspielerin und sängerin.

Die zitternde Frau
Hustvedts 2010 erschienenes Buch
»Die zitternde Frau. Eine geschichte
meiner Nerven« ist seit Kurzem
wieder im gespräch. Darin setzt sich
die schriftstellerin mit
Zitteranfällen auseinander, die sie
bei öffentlichen Auftritten
heimgesucht haben – ähnlich wie
bei Kanzlerin Angela Merkel.

Die New Yorker
Schriftstellerin
Siri Hustvedt

»Meistens


weiß ich


sehr viel«


Die us-amerikanische Autorin siri Hustvedt schreibt


Bestsellerromane und preisgekrönte


wissenschaftliche Fachartikel. Ein gespräch über


grenzüberschreitendes Denken


Foto: Rüdy Waks/modds

Hustvedt: Einige fanden es merkwürdig, dass er sich
wissenschaftlich mit so einem gefühlten thema be-
schäftigt. Zu mystisch. Es gibt viele Vorurteile in der
wissenschaftlichen Forschung, die oft uneingestanden
sind. Dabei wissen ja eigentlich alle Wissenschaftler,
dass das, was sie machen, das Penetrieren des unbe-
kannten ist. Das ist die Natur der Wissenschaft.
trotzdem gibt es ja sogar oft Widerstand gegen er-
folgreiche neue Forschungsansätze.
ZEIT: und gegen Ihren Ansatz?
Hustvedt: Es gibt einige Männer, die wütend wer-
den, wenn Frauen wie ich eine Kompetenz haben
und sich nicht für sich selbst entschuldigen. Das ist
aber eine generelle gegebenheit und hat nichts im
speziellen mit der Welt der Wissenschaft zu tun. Ich
weiß inzwischen ganz gut, wie ich mit wütenden
typen umgehe, die mich herausfordern wollen.
ZEIT: Werden sie immer verstanden?
Hustvedt: Ich bringe die verschiedenen Disziplinen
zusammen. Für Menschen, die sich nicht innerhalb
dieser Disziplinen bewegen, ist es tatsächlich sehr
schwer zu verstehen, was ich Originelles tue.
ZEIT: In der Einleitung zu der englischen Ausgabe
Ihres Essay-Bandes erklären sie ja auch, dass der
letzte teil, der sich unter anderem mit neurologi-
schen störungen, Hysterie und selbsttötung aus ein-
an der setzt, sehr schwer zu lesen ist, wenn man keine
spezialistin ist.
Hustvedt: Niemand redet über diesen teil! In vielen
Kritiken wird nicht mal erwähnt, dass dieser teil des
Buches existiert! Ich bin froh, dass sie es ansprechen.
Vielleicht ist das Buch einfach zu dick.
ZEIT: Ich glaube nicht, dass es daran liegt. Es ist
tatsächlich verdammt schwer zu lesen, wenn man
keine Wissenschaftlerin ist.
Hustvedt: stimmt. Es ist hart. Bei Die Illusion der
Gewissheit habe ich dagegen wirklich versucht, für
eine Person zu schreiben, die keine Ahnung hat.
ZEIT: gibt es etwas aus dem unbesprochenen teil
Ihres Essay-Bandes, das sie gerne teilen würden?
Hustvedt: Man muss es selbst lesen. Ich bin aber sehr
stolz auf den Kierkegaard-Essay. Ich lese Kierkegaard,
seit ich 15 bin, aber bevor ich diesen Vortrag halten
konnte, habe ich zusätzlich sehr viel sekundärliteratur
studiert. Von den Experten zum thema hörte ich
später, mein Vortrag sei das Beste, was sie je zu Kier-
kegaard gehört hätten. Das hat mich ehrlich gefreut.
ZEIT: Erleben sie es manchmal, dass sie etwas wirk-
lich tolles denken oder etwas entdecken und mit
niemandem wirklich darüber reden können?
Hustvedt: Das kenne ich gut. Ich bin die meiste Zeit
allein und lese viel Fachliteratur. Mein Ehemann
(der schriftsteller Paul Auster, Anm. d. Red.) kennt
sich damit aber nicht aus. Ich kann zwar eine Er-
kenntnis mit ihm teilen, aber er kann die dann nicht

korrigieren. Dazu kommt noch, dass selbst die Fach-
leute so eingeschränkt sind, weil eben die Philoso-
phen nicht über die Neurowissenschaften lesen und
umgekehrt. Einen Freund habe ich aber inzwischen,
mit dem ich darüber reden kann.
ZEIT: sie klingen schon manchmal wie ein Nerd.
Hustvedt: Oh ja, ich bin sehr nerdy! Ich werde auf-
geregt bei wirklich merkwürdigem Zeug. Es gibt zum
Beispiel diese Forschung zu Vogelgehirnen. Dass
Vögel mit so kleinen gehirnen wirklich smart sind,
fordert so manche bestehende theorie zu größeren
gehirnen und deren angeblich besseren Fähigkeiten
heraus. unglaublich spannend! Zufällig kam ich mit
einem Wissenschaftler ins gespräch und fragte ihn:
Haben sie diesen neuen text über die Vogelgehirne
gelesen? und er hatte! Wir waren beide so glücklich.
ZEIT: Machen sie sich beim Lesen viele Notizen?
Hustvedt: Als ich jünger war, habe ich sehr viele No-
tizen gemacht. Ich war eine Vorzeige-studentin.
Wenn mir jetzt jemand etwas schickt und meine
Meinung dazu will, also kein fertiges Buch natürlich,
dazu gratuliert man immer nur, ein Manuskript,
dann mache ich mir auch noch Notizen. Meistens
lasse ich mich aber nur noch von texten umspülen.
ZEIT: Wie meinen sie das?
Hustvedt: Ich bin nicht mehr so angespannt. Vieles,
was ich lese, ist ja nicht so einfach. Manche Philo-
sophen versuche ich seit 50 Jahren zu verstehen!
sicher habe ich in den letzten Jahrzehnten auch eini-
ges gelernt, aber ich würde mich trotzdem nicht als
wissend genug bezeichnen. Ich lese jetzt aber einfach
nur noch, ohne ausgiebige Notizen. Es ist wunder-
bar, was du so alles aufnimmst, wenn du offen bist.
ZEIT: In Ihren Essays erzählen sie auch von sich. In
dem Buch Die zitternde Frau beschreiben sie Zitter-
attacken, die sie durchlitten, obwohl sie sich ge-
sund fühlten.
Hustvedt: In dem Buch erkunde ich ein symptom,
das zufällig mein eigenes war. Viele Menschen haben
eine persönliche Verbindung zu ihrem Fachgebiet.
Der Neurologe, der mit einer Mutter aufwuchs, die
gegen eine neurologische Krankheit kämpfte. Der
Psychiater, der geisteskrankheiten in der Familie hat.
Man ist angezogen von dem, was Bedeutung für einen
selbst hat. Das Ich-Erleben ist für Erkenntnis lebens-
notwendig, sogar in der Wissenschaft. Wenn ich also
über mich selbst schreibe, dann ist das eine philoso-
phische Position. Es geht mir nie darum, meine texte
angenehm putzig für den Leser zu gestalten.
ZEIT: Worum geht es Ihnen dann?
Hustvedt: Wir sind stark konventionalisierte Wesen.
Meine gedanken zielen hauptsächlich darauf ab,
einige dieser Konventionen durchzurütteln.

Das gespräch führte Anne Backhaus
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