Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 33


D


ie Ferienlektüre der Bun-
deskanzlerin ist ein Buch
über Donald trump, in
dem der Name des us-Prä-
sidenten kein einziges Mal
genannt wird. Die Bild-Zei-
tung hat vor einigen tagen
ein Foto von Angela Merkel auf dem Balkon ih-
res urlaubshotels in südtirol veröffentlicht, auf
dem sie sich in den Band Der Tyrann des amerika-
nischen Historikers und Literaturforschers ste-
phen greenblatt vertieft. Es ist ein Werk von
listiger, schelmenhafter Aktualität. greenblatt
porträtiert darin die maßlosen, verbrecherischen
Herrscherfiguren in den Dramen William shake-
speares – und stellt dabei lauter Eigenschaften
fest, die an den gegenwärtigen Bewohner des
Weißen Hauses erinnern.
Der shakespearesche tyrann, wie er in den
Bühnenmonstern Richard III. oder Macbeth ge-
stalt angenommen hat, profitiert bei seinem Auf-
stieg von einer polarisierten politischen Landschaft


(wie zwischen Republikanern und Demokraten in
den Vereinigten staaten). Er verachtet das Volk
und tritt gleichzeitig als sein Fürsprecher auf (wie
der High-society-Populist trump). Er verlangt
von seinen Mitarbeitern mafiose Loyalität statt
gesetzestreue (wie der us-Präsident im berüchtig-
ten gespräch mit dem damaligen FBI-Chef James
Comey). Er ist stolz auf seine sexuellen Er-
oberungen, aber im grunde sind sie gar nichts
Erotisches, sondern bloß Machtdemonstrationen.
Das alles ist ein cleveres Hin und Her zwischen
Vergangenheit und gegenwart, Dichtung und
Realität, und die Bundeskanzlerin, die mit dem
amerikanischen Präsidenten ein weltbekanntes
unverhältnis verbindet, wird bei dieser literari-
schen trump-Abreibung ihr Vergnügen gehabt
haben. Doch womöglich war ein anderer Aspekt
des greenblatt-Buchs für Angela Merkel noch in-
teressanter. Denn zu Beginn des Tyrannen kommt
der Autor auf ein thema zu sprechen, das der
deutschen Regierungschefin unheimlich bekannt
vorkommen muss.

Während William shakespeares Autoren- und
theaterkarriere Fahrt aufnahm, in den 1590er-
Jahren, steckte England nämlich in einer quälen-
den und riskanten politischen Übergangsphase.
Die alternde, kinderlose Königin Elisabeth I. nä-
herte sich nach langen Jahrzehnten auf dem thron
(sie war 1558 an die Macht gekommen) un-
verkennbar dem Ende ihrer Herrschaft. Da es kei-
nen leiblichen Nachkommen und Erben gab, war
die Nachfolgefrage prinzipiell offen; alles wartete
darauf, dass die Monarchin selbst sich auf einen
Wunschkandidaten festlegen würde. Elisabeth ver-
mied es jedoch hartnäckig, einen thronfolger zu
benennen – dass man, wenn der künftige Chef
schon wartend vor der tür steht, schnell zur »lame
duck«, zur vorzeitig abgeschriebenen lahmen Ente,
werden kann, gehörte auch im 16. Jahrhundert be-
reits zum politischen Elementarwissen.
Doch der Verzicht auf eine Entscheidung hatte
ebenso seinen Preis: Über England legte sich in
den 1590er-Jahren eine Atmosphäre von Läh-
mung, Intrigenhaftigkeit und Problemverleug-

nung. Höflinge und Beamte dachten pausenlos an
den tag X und brachten sich in windungsreichen
diplomatischen und bürokratischen Manövern
dafür in stellung – aber über den in absehbarer
Zeit bevorstehenden Machtwechsel zu sprechen
war ein absolutes tabu. Die Königin, die lange
eine erfolgreiche und recht beliebte Herrscherin
gewesen war (noch 1588 hatte sie über die spani-
sche Armada, die gewaltige Flotte der damals füh-
renden großmacht Europas, triumphiert), wurde
von ihren untertanen und Beratern zunehmend
als Anachronismus und als Belastung empfunden.
schwer vorstellbar, dass die Bundeskanzlerin sich
von diesem historischen szenario nicht eigentüm-
lich angesprochen fühlt. Eine Regierende im spät-
herbst ihrer Macht, eine ungesicherte Nachfolge,
ein Land, in dem sich politisch nichts mehr bewegt,
wobei die Alternativen unklar bleiben – man kann
im Deutschland des Jahres 2019 gar nicht anders,
als dabei an die ausklingende Ära Merkel und die
Endzeit der großen Koa li tion zu denken. und man
möchte wetten, dass das die urlaubende Kanzlerin

bei ihrer Lektüre von stephen greenblatts Tyrann
mindestens so sehr beschäftigt hat wie die shake-
spearoiden schurkereien von Donald trump.
Natürlich liegen Welten zwischen den zähen
Abschieden von Elisabeth I. und von Angela Mer-
kel. Machtwechsel in einem demokratischen Ver-
fassungsstaat mit eta blier ter gewaltenteilung sind
unendlich viel weniger heikel als in einer zugleich
absoluten und fragilen Monarchie, wie England
sie gegen Ende des 16. Jahrhunderts war. Es geht
nicht um Leben und tod. Aber dass am Ende die
Verdienste der Amtsträger verblassen und nur
noch der Wunsch nach einem Wechsel übrig
bleibt, das passiert monarchischen und demokra-
tischen Machthabern gleichermaßen. Als 1603
endlich ein Nachfolger für Elisabeth den thron
bestieg, König Jakob I., begrüßte ihn eine Welle
der Erleichterung und Begeisterung. Es dauerte
eine Weile, bis man begriff, dass seine Vorgänge-
rin besser regiert hatte.

http://www.zeit.de/audio

6 POLITIK


DIE ZEIT: Herr schröder, die AfD im Osten wirbt
in den Landtagswahlkämpfen mit dem Motto
»Wende 2.0«, reklamiert die Friedliche Revolution
von 1989 für sich und nennt die Bundesrepublik
»DDR light«. Was geht Ihnen durch den Kopf,
wenn sie das sehen?
Richard Schröder: Ich finde das peinlich daneben
und anmaßend. Es stimmt ja einfach nicht. Die
Bundesrepublik ist keine Diktatur. Als
die Losung »Wir sind das Volk« vor ein
paar Jahren zum ersten Mal auf rechten
Leipziger Montagsdemos auftauchte,
haben Bürgerrechtler versucht, sich da-
gegen zu wehren – aber es gibt natürlich
kein Patent auf politische Losungen.
Inzwischen hat unsereins die Nase voll
davon, immer wieder an die Bedeutung
der zahlenmäßig kleinen Opposition in
der DDR erinnern zu müssen. gerade
erst hat es in der FAZ eine Debatte da-
rüber gegeben, in der ein Wissenschaft-
ler ernsthaft behauptet hat, die Opposi-
tionellen hätten im Herbst 1989 gar
keine Rolle gespielt, sondern die Normalbürger
hätten die Revolution gemacht.
ZEIT: Warum passiert das so unwidersprochen?
Liegt es daran, dass wir als gesellschaft kein rech-
tes Verhältnis zum November 1989 gefunden ha-
ben, schon gar keinen stolz oder so etwas?
Schröder: Im Blick auf den Herbst 1989 gibt es
einen markanten unterschied. Die Westdeut-
schen denken dabei durchweg an den 9. Novem-
ber, nämlich die Öffnung der Mauer. Aber diese
Öffnung – das wissen wir doch alle – war ein
glückliches Versehen und kein direktes Verdienst
der Ostdeutschen. Im Osten denkt man beim
Herbst 89 an die Montagsdemonstration vom



  1. Oktober, an die Angst und das Mitzittern und
    die Erleichterung, als die staatsmacht vor der un-
    erwartet großen Menge der Demonstranten kapi-
    tulierte. Diese Erinnerung kann es bei Westdeut-
    schen nicht geben, weil sie es halt nicht erlebt
    haben. Ich habe einmal dem damaligen Bundes-


präsidenten Johannes Rau empfohlen, auch an
die Mitglieder der Arbeiterkampfgruppen und
die Volksarmisten zu erinnern, die den Einsatz
gegen die Demonstranten verweigert haben. Da
haben ihm seine Berater gesagt: »Ach, das war
kein besonderes Verdienst, da war das Re gime
doch schon morsch.« Am 9. Oktober, da soll das
Re gime schon morsch gewesen sein! Wenn man
so die wirkliche Leistung der Ostdeut-
schen zur Lappalie macht, dann hat
das etwas sehr Kränkendes. Die West-
deutschen denken an die stinkenden
kleinen trabis, die plötzlich in Massen
rüberkamen, und finden das alles lus-
tig. Das sind eben die zwei Arten, den
Herbst 1989 zu erinnern, und die un-
willigkeit, sich in die Perspektive des
anderen hineinzuversetzen.
ZEIT: Halten sie es denn für plausibel,
dass unter AfD-Wählern besonders
viele sind, die 1989 auf die straße
gingen?
Schröder: Man muss immer unter-
scheiden: Wer hat vor, wer hat nach dem 9. Ok-
tober demonstriert? Danach gab es nämlich die
Demonstrationen ohne Risiko. Damals war wirk-
lich die überwiegende Mehrzahl der DDR-Bürger
gegen die herrschenden Verhältnisse. Da waren
dann sicherlich auch viele heutige AfD-Wähler
dabei. Alle haben ihre Distanz zum Re gime de-
monstriert: entweder indem man abhaute oder
indem man protestierte. Also, man kann den
AfD-Leuten jetzt nicht sagen: Ihr wart doch gar
nicht dabei! Aber jeder gruppe, die behauptet:
»Wir sind das Volk«, muss man energisch in die
Parade fahren: Auch ihr seid nur ein teil des Vol-
kes. Allerdings gab es den Missbrauch dieser Lo-
sung schon 1989, als der FDgB, die gewerk-
schaft der DDR, nicht zum Runden tisch zuge-
lassen werden sollte, da sie keine Partei sei. Da
haben die vor dem Bonhoeffer-Haus so lange ge-
rufen: »Wir sind das Volk«, bis man sie halt rein-
gelassen hat.

ZEIT: Wer damals den soldaten gegenübergestan-
den oder gar mal in Bautzen gesessen hat: Wie
kann der ernsthaft die Bundesrepublik mit »DDR
2.0« verwechseln?
Schröder: Dass viele Leute so empfinden, hat mit
den ostdeutschen Erfahrungen der Neunziger-
jahre zu tun, mit den Enttäuschungen nach der
Wende, als der geflügelte satz immer lautete: so
habe ich mir die Wiedervereinigung nicht vor-
gestellt. Vor dieser Folie ist die Mi gra tions wel le
von 2015 als erneute gefahr gesehen worden.
»Wir werden nicht gefragt. Wir dürfen nicht sa-
gen, was wir denken« – das erinnert viele Wähler
an etwas, das sie schon mal erlebt haben. Auch
wenn es nicht die staatsmacht ist, die ihnen ent-
gegentritt, sondern die veröffentlichte Meinung
und das moralische urteil des Rassismus, der
Nazi-Vorwurf – sie fühlen sich mundtot ge-
macht, und so kommt es zu dem Vergleich. Ich
sehe das auch kritisch, dieses Ketzerhut-Vertei-
len. Mich haben Leipziger Antifaschisten auch
schon zum Rassisten erklärt, weil ich gesagt hat-
te, es können nicht alle zu uns kommen, die
kommen wollen. Es ist doch Wahnsinn, dass es
im Bundestag 2015/16 keine einzige gründliche
Aussprache über die Mi gra tion gab, in der auch
die Angst vor Überfremdung angesprochen wur-
de, die nun einmal nicht wenige haben. Ich halte
diese Ängste für übertrieben. Aber nicht für
unmoralisch. sie verdienen eine Widerlegung –
keine Ächtung.
ZEIT: Einer Allensbach-umfrage zufolge sehen
sich 71 Prozent der Westdeutschen in erster Linie
als Deutsche, die Ostdeutschen identifizieren sich
zu 47 Prozent mit ihrem früheren staatsgebiet –
das gilt besonders für Wähler der AfD und der
Linken. Was steckt dahinter?
Schröder: »Der Ostdeutsche« ist erst nach 1989
entstanden. Denn vorher war es ja lange um-
gekehrt. Es waren die Westdeutschen, die sich als
»westdeutsch« (aber die Ostdeutschen übersehend
die Bundesrepublik Deutschland) nannten, wäh-
rend sich die Ostdeutschen als Deutsche im ge-

teilten Deutschland sahen, wenn sie sich nicht als
»sozialistische Internationalisten« verstanden. Das
war auch ganz verschieden konnotiert: Wer sich in
Ostdeutschland zu DDR-Zeiten als »Deutscher«
bezeichnete, der galt als staatsfeind. Wer sich in
Westdeutschland als »Deutscher« bezeichnet hat,
wurde gefragt: Bist du etwa Revanchist? Im Mai
1990 gab es in Frankfurt am Main eine Demons-
tration mit der spitze der grünen, deren Losung
lautete: »Nie wieder Deutschland!« Das Problem
besteht jetzt darin, dass das ostdeutsche Bekennt-
nis zum Deutschsein schwach in der Abgrenzung
zum Nationalismus und Extremismus ist. Man
demonstriert zusammen, hat zu wenig Berüh-
rungsängste.
ZEIT: Bei der AfD höre ich beides: »Wende 2.0«
und DDR-Nostalgie. Wie kommt es zu dieser
Nostalgie?
Schröder: Die hat zum teil mit einem schlechten,
leicht retuschierten gedächtnis zu tun. Damals
wollte man dringend das Fremde sehen, man
wollte raus, reisen, man wollte die Welt sehen.
Heute dominiert Angst vor der globalisierung
und den Fremden, die zu uns kommen. Da muss
man die AfD-Leute ruhig mal fragen: Habt ihr da
nicht was vergessen? Ich muss allerdings sagen, die
AfD-Leute, die ich aus meiner Kirchgemeinde
kenne, sind weder Nazis noch ungeheuer.
ZEIT: Der Osten ist bei vielen als rechtsextrem
und vordemokratisch verschrien, dabei stammen
praktisch alle Parteigrößen der AfD aus dem Wes-
ten. Wie kommt das?
Schröder: Das ist nicht zum ersten Mal so. Die
rechtsextremen Parteien DVu und NPD waren
zwei westdeutsche Parteien mit rein westdeut-
schem Führungspersonal, hatten aber im Osten
die größeren Wahlerfolge. Alle Mitarbeiter der
NPD im sächsischen Landtag waren damals
Westdeutsche, nur die Abgeordneten waren Ost-
deutsche. Die Leithammel kommen auch bei der
AfD aus dem Westen, aber die größeren Wahl-
erfolge hat die AfD im Osten. Das liegt an der
posttotalitären situation im Osten. Es gibt keine

milieubezogenen traditionellen Parteipräferen-
zen – die im Westen allerdings auch bröckeln.
Das Ende des sozialismus ist auch mit einer
Orien tie rungs kri se verbunden. In allen ehemals
sozialistischen Ländern üben viele die Wechsel-
wählerschaft. Da gibt es Leute, die von der PDs
direkt zur NPD rübergingen, weil beide Protest-
parteien waren und der genauere Inhalt eigentlich
nicht wirklich interessierte. Die traditionellen
Muster von rechts und links – das haut im Osten
alles nicht so richtig hin. und das ist nicht nur bei
uns so: Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der
rechtspopulistischen Pis-Partei, kommt ur-
sprünglich aus der katholischen gewerkschafts-
bewegung, der solidarność.
ZEIT: gibt es eigentlich überhaupt noch einen
Zusammenhang zwischen den ehemaligen Bür-
gerrechtlern?
Schröder: Man konnte schon im Herbst 1989 se-
hen, dass die Opposition nicht einheitlich war.
Heute ist mein gefühl, dass wir uns vor allem in
zwei Lager teilen: die Nostalgie-Bürgerrechtler und
diejenigen, die politische Funktionen übernom-
men haben und Kompromisse machen mussten.
Wer kein Amt übernommen hat, kann natürlich
gut weiterträumen.
ZEIT: und wie sollen Politiker mit den Ostdeut-
schen umgehen?
Schröder: so wie Erwachsene miteinander um-
gehen, ohne fürsorgliche Betreuung, die ja in
Wahrheit entmündigt, aber auch ohne Entwürdi-
gungen, die auf unkenntnis beruhen, wie: Ihr
hattet doch das Re gime, das ihr geduldet habt,
oder: Ihr solltet uns dankbarer sein. gegen das
Jammern auf hohem Niveau hilft manchmal die
gesamtdeutsche statistik mit besonderer Berück-
sichtigung des Ruhrgebiets. Dass die Ostdeut-
schen den größeren Preis für den verlorenen Krieg
zu zahlen hatten und nach 1990 harte umstellun-
gen hinnehmen mussten, sollte aber hörbar aner-
kannt werden.

Die Fragen stellte Mariam Lau

»Peinlich, daneben und anmaßend«


Der Theologe, Philosoph und DDR-Bürgerrechtler Richard schröder über den Wahlkampf der AfD, die Entstehung


»des Ostdeutschen« nach der Wende und die verzerrte Erinnerung der Westdeutschen an den Herbst 1989


Richard Schröder,
75, war SPD-
Abgeordneter in
der Volkskammer
und im Bundestag

Angela Merkel und der


Abschied der Königin


Was die urlaubslektüre der mächtigsten Frau der Welt über ihre politische Zukunft aussagt


VON JAN ROSS

Die Kanzlerin liest das Buch »Der Tyrann«
von Stephen Greenblatt auf dem Balkon eines Hotels in Südtirol

Fotos: BS/Bestimage; Dominik Butzmann/laif (u.)
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