Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1
Noch nie war eine Gesellschaft so reich an materiellen Dingen wie die unsrige, und gleichzeitig so arm an gemeinsamen
Zielvorstellungen. Am 6. September 2019 kommen zum elften Mal Vertreter aus Unternehmen, Parteien und Zivilgesellschaft
zusammen, um im Rahmen des ZEIT Wirtschaftsforums über das richtige Zusammenspiel von Markt und Staat zu diskutieren.
Insbesondere Vertreter der jungen Generation zeigen zunehmend Haltung und stellen die Zukunftsfähigkeit der Politik und
Wirtschaft in Frage. Die traditionelle politische Landschaft ist in Bewegung geraten, die bisherigen Volksparteien der Mitte
erodieren. Die Debatte um die Ausgestaltung unserer sozialen Marktwirtschaft ist neu entfacht, die Wirtschaft ist tiefgreifenden
Veränderungen unterworfen. Es gilt, die Diskussion darüber zu intensivieren, wie wir angesichts politischer, sozialer, ökonomischer
und ökologischer Herausforderungen unsere Gesellschaft in die Zukunft führen wollen. Lassen Sie uns für den Konsens streiten!
Informationen zum Programm und zur Anmeldung finden Sie unter: http://www.zeit-wirtschaftsforum.de

Fotos, v. l. n. r. Bild 2 © Mein Grundeinkommen; Bild 4 © Laura Stevens für DIE ZEIT • Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg • Convent Gesellschaft für Kongresse und Veranstaltungs-
management mbH, Senckenberganlage 10–12, 60325 Frankfurt am Main


  1. SEPT. 2019 · HAMBURG
    HAUPTKIRCHE ST. MICHAELIS


Partner: Social-Partner: Veranstalter:

BORIS PALMER
Oberbürgermeister,
Universitätsstadt Tübingen

MICHAEL BOHMEYER
Gründer,
Mein Grundeinkommen e.V.

KEVIN KÜHNERT
Bundesvorsitzender der Jusos

LUISA NEUBAUER
Umweltaktivistin; Organisatorin,
»Fridays for Future«

TERRY REINTKE
Mitglied, Europäisches
Parlament

DR. ANASTASSIA
LAUTERBACH
Wirtschaftsexpertin,
Multi-Aufsichtsrätin, Gründerin

Sprecher (Auszug):

KLIMA, MARKT UND WERTE:


WORÜBER WIR JETZT STREITEN MÜSSEN!


#ZEITWIFO





107225_ANZ_10722500018739_23617280_X4_ONP26 1 01.08.19 12:


  1. August 2019 DIE ZEIT No 33 POLITIK 7


Moskau

S


o also stellen sich die Mächtigen
in Russland Agenten des Westens
vor, gelenkt aus Berlin und Wa­
shington: ältere Damen auf Park­
bänken, Frauen mit Kindern und
sehr viele sehr junge gesichter,
die entlang des mit geranien be­
pflanzten Boulevardrings im Zentrum Moskaus
spazieren, weil ihnen Protestieren untersagt wur­
de, Polizei und sondereinsatzkräfte, reichlich ver­
treten, hinterher.
Was sich am vergangenen samstag in Moskau
abspielt, hat absurde Züge: Polizei und sonder­
einsatzkräfte nehmen wahllos Menschen fest. Ein
vorbeifahrender Fahrradfahrer wird von Polizisten
von seinem Rad geknüppelt. Als es nicht gelingt,
ihn wegzusperren, lässt man schließlich von ihm ab.
Ein schlaksiger Rotschopf wird von sondereinsatz­
kräften gefragt, ob er Blogger sei. Als er bejaht,
nehmen sie ihn mit. und ein Abgeordneter, der in
einem Interview eigentlich gerade erklärt, warum
er das Vorgehen der Polizei maßvoll findet, wird
mitten im satz vor laufender Kamera abgeführt.
seit in Moskau fast alle oppositionellen Kan­
didaten für die Wahl zum stadtparlament am



  1. september nicht zugelassen wurden, hat eine
    Protestwelle die stadt erfasst. Erst waren es ein
    paar Dutzend unterstützer, die demonstrierten.
    Mittlerweile sind es tausende, die in Moskau auf
    die straße gehen, auch wenn die Polizei es ver­
    bietet – genau lässt sich die Menge nicht bezif­
    fern, da die Menschen spazieren und sich nicht
    an einem Ort versammeln. Für eine stadt mit
    fast 13 Millionen Einwohnern sind das zwar
    nicht viele, aber dafür, dass Moskau aufgrund der
    urlaubszeit derzeit ziemlich leer und Protestieren
    riskant ist, eben auch nicht wenige. Am vergan­
    genen samstag wurden wieder mehr als 1000
    Menschen festgenommen. Die meisten von ih­
    nen kamen nach kurzer Zeit wieder frei.
    Die Wahl eines relativ bedeutungslosen stadt­
    parlaments hat die größten Proteste in Moskau
    seit 2012 entfacht, als Wladimir Putin mithilfe
    eines Verfassungsbruchs als Präsident zurück­
    kehrte. Das stadtparlament entscheidet zwar
    wenig. Aber Abgeordnete haben das Recht auf
    Befragungen und Einblick in Akten, was den op­
    positionellen Kandidaten bei der Aufdeckung
    von Korruptionsfällen und Vetternwirtschaft
    helfen dürfte. Es ist ein geringer Einfluss. Doch
    bereits der scheint den Regierenden zu gewaltig.
    Mittlerweile hat sich der lokale Konflikt zu
    einer politischen Krise entwickelt. Wohnungen


mehrerer oppositioneller Kandidaten und ihrer
unterstützer wurden durchsucht. Mehr als ein
halbes Dutzend von ihnen sitzt seit tagen in
Haft. Der Chefredakteur des unabhängigen In­
ternet­senders tVRain bekam Besuch von der
Polizei und sollte verhört werden, nun steht bei
seinem sender eine unerwartete steuerinspek­
tion an. Einem Paar, das gemeinsam mit seinem
Kind protestierte, will die staatsanwaltschaft
plötzlich das sorgerecht entziehen. Bislang wer­
den neun Protestierende beschuldigt, an Mas­
senunruhen teilgenommen oder gewalt gegen
die Polizei angewandt zu haben – das sind
schwerwiegende Vorwürfe, ihnen drohen im
schlimmsten Fall bis zu acht Jahre Haft.
Da ist zum Beispiel Jegor schukow, den
sein Professor von der renommierten Higher
school of Economics einen »Musterstudenten«
nennt – er soll den Demonstranten ein Zeichen
gegeben haben, von der straße wegzubleiben.
Da ist Alexej Minjajlo, der einfach dagestanden
haben soll. Da ist samaridin Padschabow, der
eine Plastikflasche auf einen Polizisten gewor­
fen haben soll. sie alle sind derzeit in Haft. Das
russische Außenministerium sieht das Ausland
am Werk, der Moskauer Bürgermeister erklärt,
hier seien von langer Hand Massenunruhen ge­
plant worden. Doch bei diesen Protesten ging


  • anders als etwa bei den Protesten der gelb­
    westen in Frankreich – nicht einmal eine schei­
    be zu Bruch. Die größten bislang bekannten
    Vergehen: Ein Mann schmiss einen Mülleimer
    Richtung Polizei, ein anderer ein stückchen As­
    phalt auf einen Helm.
    In ihrer Maßlosigkeit wirkt die politische
    Elite, als habe sie den Kontakt zum Volk verloren.
    Natürlich droht ihr weder morgen noch über­
    morgen der sturz. Aber die Popularität der Re­
    gierungspartei sinkt massiv, das Vertrauen in den
    Präsidenten auch. seit Jahren nehmen soziale
    Proteste in Russland zu – gegen die Erhöhung des
    Rentenalters, gegen Müllkippen oder steigende
    Kommunalabgaben. Das erzeugt Druck. Denn
    auch ein autoritäres system braucht Legitimität
    durch das Volk. In Moskau beantwortet das sys­
    tem diesen Druck bislang mit Repressionen.
    Kurzfristig mag diese Härte dazu führen, dass
    bald auf Moskaus straßen Ruhe einkehrt. Lang­
    fristig jedoch könnte sie eine paradoxe Folge ha­
    ben und jenen Widerstand befeuern, den der
    Kreml eigentlich fürchtet. Denn wenn selbst
    kleinste Veränderungen von unten rabiat erstickt
    werden, dann lehrt das die Bürger eins: Die Al­
    ternative zum stillstand heißt Eskalation.


Der Staat schlägt zurück


Auf die größten Proteste seit Jahren reagiert die Regierung in Moskau mit gewalt. Kurzfristig mag das für Ruhe sorgen.


Aber das Vertrauen der Russen in ihren Präsidenten schwindet VON SEBASTIAN BOLESCH (FOTOS) UND ALICE BOTA (TEXT)


Seit über drei Jahren
fotografiert Sebastian Bolesch
in Russland. Dieses Mal trug er
erstmals eine Warnweste mit
dem Aufdruck »Presse«, um
nicht festgenommen zu werden

Fotos: Sebastian Bolesch für DIE ZEIT (Moskau, 3.8.2019)

ANZEIGE
Free download pdf