Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

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Harald Martenstein


Über den Umgang mit Nazis in den Jahren nach 1945 und


den Unterschied zwischen Moral und Staatskunst


Illustration Martin Fengel
Zu hören unter http://www.zeit.de/audio

Harald Martenstein


ist Redakteur des »Tagesspiegels«


Als ich 20 war, wimmelte es in Deutschland von ehemaligen Nazis.


Im Einzelfall war schwer zu beurteilen, inwieweit das Wort »ehema-
lig« zutraf. Mein Großonkel war auch einer. Er hatte sein einziges


Kind dazu gedrängt, sich im September 1939 freiwillig zu melden.
Der Sohn starb schon in den ersten Kriegswochen, mit 18, als einer


der Ersten. Der Alte blieb auch nach dem Krieg Stu dien rat, Fach
»Deutsch«. Als Kind mochte ich ihn, er hat mir viele Bücher ge-


schenkt, ausnahmslos unpolitische. Dann wurde ich erwachsen und
interessierte mich für Geschichte.


Ich war empört über die Art, wie damals mit den Verbrechen der
Nazis umgegangen wurde. Erstens saßen an vielen Schalthebeln


ehemalige Mitläufer oder Täter, als Richter, Politiker, Unter-
nehmer. Zweitens wurde die Schuld beschwiegen und verdrängt.


Drittens besaßen viele Nazis die Unverfrorenheit, sich selber als
Opfer darzustellen, statt dafür dankbar zu sein, dass sie noch leb-


ten. Trotzdem war, das erkannte ich ja auch, die Geschichte der
Bundesrepublik alles in allem ein demokratischer Erfolg, der 1945


nicht abzusehen war. Diese beiden Wahrheiten habe ich lange
nicht zusammengekriegt.


Jetzt habe ich das Sachbuch Wolfszeit von Harald Jähner gelesen,
es erzählt vom Deutschland der Jahre 1945 bis 1955. Ich kann das


Buch gar nicht genug loben, aber gelobt wurde es schon von vielen.
Jähner schreibt, dass die Überzeugung vieler Deutscher, Hitlers Op-


fer zu sein, die Voraussetzung dafür war, ihre Loyalität gegenüber
dem alten Re gime »abstreifen zu können, ohne sich ehrlos, feige und


opportunistisch zu fühlen«. Weil sie sich zu Verführten, Betrogenen
oder sogar Befreiten erklärt haben, mussten sie sich, wie praktisch,


auch nicht mit den Nazi-Verbrechen aus ein an der set zen.


Nur so konnten aber diese vielen Millionen Ex-Nazis in einen Anti-
Nazi-Staat integriert werden, und das war natürlich notwendig. Ich
habe bei der Lektüre begriffen, dass der alte Kanzler Ade nau er, ein
NS-Gegner, das Richtige getan hat. Er sagte: »Man schüttet kein
schmutziges Wasser weg, solange man kein sauberes hat.« Den Alt-
nazi Globke machte er sogar zum Kanzleramtschef, ein Si gnal an
alle Mitläufer. »Unbelehrbare« wurden ausgegrenzt, Anpasser beka-
men ihre Chance. Einer seiner damals härtesten Kritiker, der SPD-
Politiker Egon Bahr, hat ihm Jahrzehnte später recht gegeben. Wenn
Ade nau er auf strenge Moralisten wie ihn gehört hätte, dann wäre,
so Bahr, der neue Staat explodiert. Bahr schrieb über die In te gra tion
der alten Nazis durch Ade nau er: »Das war Staatskunst.«
Staatskunst kann sehr unappetitlich sein. Es passierten damals Din-
ge, die auf ewig ekelerregend bleiben. Zum Beispiel bekamen SS-
Angehörige für die Zeit, in der sie Massenmörder waren, auch noch
Rentenpunkte. Ich finde immer noch, dass Ade nau er zu weit ging,
aber ich begreife, dass er im Grundsatz ein kluger Mann war. An
meinem Hass auf die Nazis hat sich nichts geändert. Aber Hass kann
auch dumm machen, da muss man aufpassen. Wenn durch ein bio-
logisches Wunder schon 1949 die wütende Ge ne ra tion der 68er am
Ruder gewesen wäre, was wäre wohl passiert? Die In te gra tion der
Millionen Mitläufer und Anpasser wäre gescheitert. Ende offen.
Als ich das Buch zuklappte, dachte ich, dass ich zwar eine Politik
ohne Moral nicht ertragen könnte, genauso wenig aber eine Politik,
die nur aus Moral besteht. Pragmatismus ist schon auch nötig. Und
mein Onkel, den sein Nazi-Vater mit 18 in den Tod geschickt hat,
ist ja tatsächlich ein Opfer von Adolf Hitler gewesen, obwohl er
Deutscher war.
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