Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

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Frau Greenberg, Sie arbeiten seit über 40 Jahren als The-


rapeutin in New York City. Was passiert typischerweise,
wenn ein Narzisst Ihre Praxis betritt?


In meinem Town house ganz in der Nähe des Central Park
sieht es aus wie in einer Bibliothek: Es gibt Bücherwände,
ein Samtsofa, Eichenvertäfelung und zwei Wände voller
Diplome. Meine narzisstischen Klienten scannen erst mal
alles nach Hinweisen auf mein Einkommen und meinen
sozialen Status. Narzissten denken sehr stark in Hierar­
chien. Es ist wichtig für sie, dass ich idea li sier bar bin,
damit sie glauben können, dass ich ihnen helfen kann,
und was sie idealisieren, ist Geld, Erfolg und Brillanz.
Also finden sie es beruhigend, bestimmte Statussymbole
vorzufinden. Manchen sehe ich auch an, dass sie gerne
fragen würden, wie es kommt, dass ich eine so schöne
Praxis habe: Ist sie gemietet, oder gehört mir das Gebäu­
de? Einige fragen auch ganz direkt.

Und Ihre Antwort?
Das Gebäude gehört mir und meinem Mann. Manche
fragen dann einfach weiter und wollen wissen, wann ich es
gekauft habe und was ich dafür bezahlt habe.


Wie viele Narzissten haben Sie schon behandelt?
Ich mache das schon so lange, dass ich es nicht weiß, zu­
mal viele nach wenigen Sitzungen wieder aufhören. Aber
um Ihnen eine Einschätzung zu geben: Letzte Woche hatte
ich 16 Klienten. Vier haben irgendeine Form von Narziss­
tischer Persönlichkeitsstörung, vier haben einen narziss­
tischen Partner. Außerdem leite ich eine Gruppentherapie,
und die Hälfte meiner Gruppe versucht, mit den Nach­
wirkungen narzisstischen Missbrauchs zurechtzukommen.
Neuerdings werden alle möglichen Menschen als Narziss-


ten bezeichnet: Prominente, Leute, die ihr Privatleben auf
Insta gram ausstellen, Spitzenkräfte aller Branchen und na-


türlich Ex-Partner. Woher kommt die Dia gnose wut?
Der Begriff »Narzisst« ist ein Synonym für Menschen ge­
worden, die sich egozentrisch, unempathisch und gemein
verhalten. Die Leute verstehen, dass Narzissmus etwas
Schlechtes bedeutet, dass jemand gemein und egoistisch
ist. Doch viel mehr wissen sie nicht darüber.


Aber warum wird gerade dieses Etikett so oft verteilt?
Es hängt damit zusammen, dass die Störung stärker ins
Bewusstsein von Psychotherapeuten geraten ist und besser
behandelt werden kann. Sigmund Freud, der Vater der
Psychoanalyse, hat zwar auch schon Patienten identifiziert,
die wir heute Narzissten nennen würden. Aber er glaub­
te, dass sie mit seinen Methoden nicht behandelt werden
konnten. Die meisten Psychotherapeuten sahen das lange
ähnlich und nahmen solche Patienten eher nicht an. Das
änderte sich radikal, als moderne Psychoanalytiker in den
Siebzigerjahren Behandlungssysteme für die Narzisstische
Persönlichkeitsstörung entwickelten, die wiederum zu
Konferenzen, Kursen, Diskussionen führten.
Das Thema ist so groß, dass sich die Zahl der Google-


Suchanfragen für »Narzissmus« innerhalb von zehn Jah-
ren vervierfacht hat.


Viele Menschen ohne psychologische Vorbildung erklä­
ren sich mit dem, was sie Narzissmus nennen, eine ganze
Reihe von Problemen, die sie mit anderen Menschen ha­
ben. Gerade heute hatte ich eine Klientin, die 25 Jahre
lang von ihrem Ehemann abgewertet und schlecht behan­
delt wurde. Erst als sie im Internet über Narzissmus las,
erkannte sie, dass er eine Narzisstische Persönlichkeitsstö­
rung hat. On line explodiert das Thema gerade. Jetzt gilt
es, präziser zu werden.
Schon das Wort ist unpräzise. Es gibt so etwas wie gesun-
den Narzissmus, es gibt eine narzisstische Störung, und
es gibt narzisstische Züge, die anscheinend irgendwie da-
zwischenliegen. Das ist fast so, als würde man sagen, es
gibt gesunden Diabetes, krankhaften Diabetes und ein
bisschen Diabetes.
Ich glaube, das Wort Narzissmus wird für zu viele Dinge
verwendet. Narzissmus bezeichnet erst mal eine In ves ti­
tion in das Selbst, gesunder Narzissmus hat nichts mit
irgendeiner Störung zu tun. Wer an einer Narzisstischen
Persönlichkeitstörung leidet, kann sich selbst und andere
nicht auf eine stabile und integrierte, allumfassende
Weise wahrnehmen – also als Menschen mit guten und
schlechten Eigenschaften. Man kann das als eine Störung
der Selbstwertregulation betrachten. Betroffene sehen
sich unrealistisch und gespalten: entweder als besonders,
perfekt und nur das Beste verdienend. Oder als Abfall,
wertlos, mangelhaft.
Sollten wir also besser gesunde Selbstwertregulation versus
Störung der Selbstwertregulation dazu sagen?
Ja, wobei es nicht nur um Selbstwertregulation geht.
Echten Narzissten fehlt es auch an emotionaler Empa­
thie. Sie haben vielleicht ko gni ti ve Empathie und kön­
nen herleiten, was andere fühlen. Aber sie spüren nicht
deren Freude oder deren Schmerz – außer es hat mit ih­
nen selbst zu tun.
Kann es sein, dass Narzissmus auch deshalb so ein aufgela-
denes Wort ist, weil es ein psychologischer Begriff für das
Böse zu sein scheint? Keine Empathiefähigkeit zu besitzen
und die Meinung über andere jederzeit ändern zu können
ist ja eine Voraussetzung, um wirklich böse zu sein.
Ich würde das Wort so nicht verwenden – das Böse ist
für mich ein moralisch­religiöser Begriff. Das Böse ist von
innen her schlecht. Hier haben wir es aber mit bösartigen
Verhaltensweisen zu tun. Und ich kenne viele Narzissten,
die vielleicht nervig, unangenehm oder langweilig sind –
aber nicht böse. Zudem werden diese Verhaltensweisen
erst heute als Problem empfunden, vor dem Hintergrund
des Egalitarismus, der Vorstellung, dass jeder Mensch
Respekt und Würde verdient.
Das Internet ist voll von Opfern vermeintlicher Narziss-
ten, die über diese reden, als seien es gefährliche Außer-
irdische: »Warum hassen sie mich plötzlich? Können sie
wirklich lieben? Können sie weinen? Mögen sie Tiere?«
Woher kommt Ihr eigenes Interesse an dieser so gefürch-
teten Gruppe? Foto Katharina Poblotzki
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