Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

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Gefühle angesichts dieses Verhaltens. Er will kein echtes
Gespräch mit Ihnen führen. Wie allen Narzissten geht
es ihm darum, Ihnen und damit sich selbst zu beweisen,
wie besonders er ist.
Also ist er ein Narzisst?


Für eine Dia gno se weiß ich nicht genug. Kann sein, dass
er einfach kein guter Gesprächspartner ist. Oder er ist
Autist und total in sein Thema verliebt, wie die Typen,
die nur über Zugfahrpläne reden. Vielleicht hat er auch
eine schizoide Störung. In dem Fall würde er deshalb
ein obskures Gesprächsthema wählen, damit es nicht zu
persönlich wird. Schizoide Menschen wirken manchmal
narzisstisch, aber ihr Motiv ist nicht, sich besonders zu
fühlen – sie wollen Nähe vermeiden.
Wenn jener Professor zu Ihnen in die Praxis käme: Wie


würden Sie herausfinden, was er hat, falls er überhaupt
irgendetwas hat?


Wenn er nicht zuhören würde, während ich spreche, oder
gelangweilt oder wütend würde, wenn er nicht bewundert
wird, dann spräche das eher für Narzissmus. Viele meiner
narzisstischen Klienten geben zu, dass sie kein Interesse
daran haben, was andere sagen. Sie sitzen da und hoffen,
dass der andere bald fertig ist. Außerdem würde ich schau-
en, wie der Professor auf eine Meinungsverschiedenheit
reagiert. Wenn er eine Narzisstische Persönlichkeitsstö-
rung hat oder starke narzisstische Züge, würde er diese
vermutlich als Angriff auffassen und zurückschlagen.

Was ist der Unterschied zwischen narzisstischen Zügen
und einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung?


Die Antwort habe ich in der Objektbeziehungstheorie
gefunden, wie sie von James F. Masterson gelehrt wurde,
einem Psychoanalytiker, der bahnbrechende Arbeit auf
diesem Gebiet geleistet hat. Um eine Narzisstische Persön-
lichkeitsstörung zu dia gnos ti zie ren, kommt es nicht darauf
an, welche und wie viele narzisstische Züge jemand hat.
Wenn man sich und anderen zugestehen kann, gleicher-
maßen gute wie schlechte Eigenschaften zu haben, selbst
wenn man wütend oder enttäuscht ist, dann hat man das,
was man eine integrierte Objektbeziehung nennt, also eine
umfassende Beziehung zu anderen Menschen und zum
eigenen Selbst. Wenn Sie diese besitzen, haben Sie keine
Persönlichkeitsstörung. Wenn Sie unter einer der drei
Haupt-Persönlichkeitsstörungen leiden – der Narzisstischen,
der Bor der line- oder der schizoiden Persönlichkeitsstörung,
dann nehmen Sie hingegen sich selbst und andere Personen
als entweder/oder wahr: Entweder jemand ist ganz und gar
gut. Oder ganz und gar schlecht. Und wenn Sie etwas stört,
wird die Beziehung be endet. Oder man sagt sehr verlet-
zende Dinge in einem Streit oder wird sogar gewalttätig.

Sind Narzissten gefährlich?
Nur manche Menschen mit Narzisstischer Persönlich-
keitsstörung werden körperlich aggressiv. Aber sie können
anderen Menschen das Leben ziemlich zur Hölle machen,
weil sie diese abwerten oder betrügen oder die Wahrheit
verdrehen. Auf jeden Fall sind nicht integrierte Objekt-


beziehungen ein guter Prädiktor für Missbrauch – oder
den schnellen Abbruch einer anscheinend guten Bezie-
hung. Ich hatte eine Freundin mit Narzisstischer Per-
sönlichkeitsstörung. Sie lud mich zu einem Familienfest
in einer anderen Stadt ein. Ich hatte kleine Kinder und
konnte nicht hinfahren. Wir kannten uns 20 Jahre, aber
sie sprach danach nie wieder mit mir. Ich wurde in einem
Moment von »total gut« zu »total schlecht«.
Jeder hat schon mal eine Freundschaft be endet, weil die
andere Person etwas getan hat, was schließlich zu viel war,
selbst wenn die Sache an sich klein war.
Stimmt, aber sie machte das mit allen so. Ihr Leben war
voller zerbrochener Beziehungen.
Es gibt auch in Beziehungsstreits ja oft den Moment, in
dem man denkt: Was tue ich hier? Bin ich verrückt? Ich
sollte sofort gehen.
Den kennen viele von uns, selbst wenn wir größtenteils
normal sind. Aber wir halten dann an uns und erinnern
uns daran, dass die andere Person meistens gut zu uns
ist und dass unsere Leben verflochten sind, und reagie-
ren nicht. Und wenn wir doch etwas tun, das uns später
leidtut, sind wir in der Lage, uns zu entschuldigen. Wenn
jemand keine integrierten Objektbeziehungen hat, hat er
hingegen in allen Beziehungen Schwierigkeiten. Ich ma-
che jetzt einen Test mit Ihnen.
Okay.
Denken Sie an jemanden, mit dem Sie nicht mehr be-
freundet sein wollten. Können Sie die Person beschreiben?
Klar. Der Mensch, an den ich denke, ist klug und em-
pathisch, aber fühlt sich sofort angegriffen, wenn man
Konflikte anspricht.
Sie können beide Seiten dieses Menschen sehen, das
spricht dafür, dass Sie integrierte Objektbeziehungen ha-
ben. Sonst könnten Sie sich jetzt nur an Gutes oder an
Schlechtes erinnern. Ihre Meinung über jemand anderen
wäre per se instabil. Sie wachen am Tag nach einem Streit
auf und haben gute Laune und verhalten sich so, als ob
der Streit nie stattgefunden hätte. Manche Menschen
switchen stündlich hin und her. Während andere einen
lebenslangen Groll hegen.
Und wer andere so schwarz-weiß betrachtet, der sieht auch
sich selbst so, richtig?
Genau. Deshalb ist es für narzisstische Menschen so wich-
tig, dass sie so gesehen werden, wie sie das wollen.
Das heißt, die Art und Weise, wie wir Objektbeziehungen
gelernt haben, sind das Fundament unserer Beziehung zu
uns selbst und zu anderen?
Wer integrierte Objektbeziehungen hat, schadet anderen
weniger, wenn er enttäuscht oder wütend ist, und ist auch
toleranter gegenüber eigenen Fehlern und Mängeln.
Sodass der Spruch, jemand sei seine eigene Strafe, auf nar-
zisstische Menschen zutrifft?
Die Entwertung anderer entspricht der Entwertung des
eigenen Selbst, das ist richtig. Wenn ich wissen will, wie
harsch die innere Stimme eines Menschen zu ihm selbst
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