Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

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Narzissten suchen in Greenbergs Praxis nach Hinweisen auf den sozialen Status der Therapeutin, denn sie idealisieren Brillanz


spricht, höre ich einfach hin, wie dieser Mensch über an­
dere redet. Wer jemand anderen eine fette Sau nennt, der
belegt auch sich selbst mit Schimpfwörtern.
Sie meinten vorhin, dass die Entweder-oder-Sichtweise das
Grundproblem verschiedener Persönlichkeitsstörungen ist.
Worin unterscheiden sich diese dann?
Narzissten projizieren auf andere, dass sie entweder per­
fekt und fehlerfrei sind oder mangelhaft und wertlos. Bor­
der line­ Pa tien ten sehen den anderen entweder als liebende
Mutter oder als böse Mutter – ich liebe dich oder ich hasse
dich. Und Schizoide haben das Empfinden, dass es sicher
oder unsicher ist, mit jemandem zusammen zu sein.
Ich denke auch oft einfach nur »Idiot« über Menschen,
über die ein guter Freund von mir sehr nuanciert spricht.
Es kann sein, dass Sie beide integrierte Objektbeziehungen
besitzen, aber seine sind robuster, und er gewinnt sie unter
Stress womöglich schneller zurück. Es kann auch sein, dass
Ihr Freund aus spirituellen Gründen nicht schlecht über
andere spricht. Viele Religionen verbieten das.
Wie entsteht eigentlich ein integriertes Bild von sich und
anderen?
Durch die Art und Weise, wie man selbst behandelt wur­
de. Wenn die Eltern ein Kind wertschätzen, selbst wenn es
etwas getan hat, was sie enttäuscht hat, dann lernt es das.
Man sieht das auf jedem Spielplatz: Wenn ein Zweijähriger
ein anderes Kind aus dem Weg stößt und die Eltern sagen:
»Johnny. Was glaubst du, wie du dich fühlen würdest, wenn
du so rumgeschubst würdest?«, dann lehren sie Empathie
und integrierte Objektbeziehungen.
Bis zu welchem Alter hat man es dann gelernt?
Die Beziehungen zu anderen werden mit etwa drei Jah­
ren differenzierter, davor sind sie gespalten: »Mama, ich
hasse dich« und kurz darauf »Du bist die beste Mama der
Welt«, was man bei Zweijährigen oft sehen kann. Nach
meinen Beobachtungen ist es ein langer Prozess. Um
neuronale Verbindungen herzustellen, braucht es Wie­
derholung. Und manchmal, wenn die Eltern selbst keine
integrierten Objektbeziehungen haben, gibt es vielleicht
jemand in der erweiterten Familie, der sie hat. Ich habe sie
von meiner Tante Sylvia gelernt. Sie hat nie viele Worte
gemacht. Aber ich habe in ihren Augen gesehen, dass sie
mich geliebt hat, egal was war. Ich habe ein Bild von ihr in
meinem Büro, auf dem sie meine Hand hält, und meine
Mutter hält mich an der anderen Hand.
Tante Sylvia hat Sie gerettet?
Ja. Ich habe Glück gehabt. Meine Eltern konnten nicht
immer für mich sorgen, deshalb wurde ich ab und zu bei
meinen Großeltern abgeladen, und Tante Sylvia lebte in
derselben Wohnung wie sie, in der Bronx.
Was war mit Ihren Eltern?
Meine Mutter war sehr lieb und empathisch, aber sie hatte
oft Depressionen und psychotische Schübe. Mein Vater
war ein Psychopath. Er hatte ein unteraktives Nervensys­
tem. Er hatte kein Gewissen, hatte kaum Angst, war ruhe­
los und langweilte sich schnell. Weder meine Mutter noch

mein Vater hatten ein normales Nervensystem, aber weil
die beiden so unterschiedlich waren, ist meines okay. Wem
ein normales Nervensystem mitgegeben wurde, der kann
integrierte Objektbeziehungen von Menschen um sich
herum lernen. Deshalb sind auch einige gesellschaftliche
Entwicklungen nicht besonders gut für Kinder.
Wie zum Beispiel?
Weit weg von der Großfamilie zu leben. Wenn Kinder
Tanten und Onkel, Cousins, Cousinen und Großeltern
um sich herum haben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass
ihre emotionalen Bedürfnisse erfüllt werden.
Emotionale Stabilität durch emotionale Vielfalt?
Genau. Es ist fast wie eine Impfung. Viele meiner Klienten
wurden durch Großeltern gerettet oder durch Lehrer. Ich
hatte sehr enge Beziehungen zu Tante Sylvia und Tante
Rita und zu meinem Großvater. Sie haben sich immer Zeit
für mich genommen und mir die emotionale Sicherheit
gegeben, die ich von meinen Eltern nicht bekommen
habe. Und ich war lange in Therapie.
Wie ging es Ihnen nach dieser Kindheit?
Ich war instabil, ängstlich und traumatisiert. Als ich 16
war, ging mein Vater auf eine Reise und kam nie zurück.
Meine Mutter hatte einen weiteren psychotischen Schub.
Ich lebte ein Jahr lang obdachlos in New York, bis ich
wieder zur Schule ging. Selbst Tante Sylvia konnte mich
nicht finden. Und ich hatte eine Essstörung. Ich hatte
großes Glück, dass ich all das überlebt habe. Ich habe
einfach immer weitergemacht. Das Gute daran ist, dass
mich sehr wenig von dem, was meine Klienten sagen,
schockieren kann. Und all das hat mich tough und wider­
standsfähig gemacht.
Und jetzt übernehmen Sie die Rolle der Tante Sylvia für
andere?
Ich sehe und spiegele ihre Stärken. Und ich helfe ihnen,
ein integriertes Bild von sich zu bekommen. Und von
anderen.
Wie funktioniert das?
Es gibt zum Beispiel eine einfache Methode, die ich die
Listen­Methode nenne. Wenn man sich in einer liebevollen
Stimmung gegenüber einem Menschen befindet, der einem
wichtig ist, macht man eine Liste mit all den Dingen, die
man mag, Dingen, die die Person für einen getan hat. Diese
Liste liest man jeden Tag durch. So als würde man ein In­
strument üben, bis man eines Tages intuitiv darauf spielen
kann. Das nächste Mal, wenn das Bild von dieser Person
ins Negative zu kippen droht, nimmt man die Liste und
versucht wirklich zu spüren, was da steht. Wenn meine
Klienten darin besser werden, laufen ihre Beziehungen zu
anderen Menschen sehr viel einfacher.
Wenn man sich anschaut, wie Menschen früher auf-
gewachsen sind, würde man vermuten, dass es in der Ge-
schichte der Menschheit eher normal war, keinen stabilen
Selbstwert zu entwickeln.
Es gab eine Zeit, in der Kinder davon ausgingen, geschla­
gen zu werden. Niemand mag das, aber wenn alle so be­
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