Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

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straft werden, ist es weniger persönlich. Man ist immer
noch verletzt, aber man schämt sich nicht unbedingt. Es
wirkt sich wahrscheinlich nicht so stark auf die Selbst­
achtung aus. Dazu kommt, dass wir in früheren Zeiten
vielleicht gar nicht so gut darin sein mussten, unseren
Selbstwert zu regulieren.
Weil die Gesellschaft das für einen getan hat?


Zum Beispiel im Mittelalter: Die meisten Gesellschaften
hatten eine Hierarchie, in die man geboren wurde. Wenn
man der Dorfschmied war und nicht zum Dorfrichter auf­
stieg, war man nicht enttäuscht, dass man keine Karriere
machte. Heute hängt alles an uns selbst. Es lastet ein großer
Druck auf Menschen, die nicht unbedingt dafür gebaut
sind, alleine ein großartiges Leben aufzubauen. Es ist also
nicht nur die Kindheit, die dazu führt, dass Menschen sich
wertlos fühlen und Bestätigung von außen suchen.
Wie sieht Narzissmus von innen aus?


Viele meiner Klienten wirken selbstbewusst, dabei werden
zahlreiche ganz normale Situationen von ihnen als gefähr­
lich empfunden und können tiefe Scham auslösen. Und
Scham ist einer der schmerzhaftesten Gefühlszustände, die
ein Mensch erleben kann. Ich hatte eine Klientin, die sehr
narzisstisch war. Sie arbeitete für einen Chef, der sie sehr
schätzte und besonders behandelte. Sie kam in Therapie,
weil sie einen neuen Chef bekam. Sie hatte panische Angst,
dass sie, wenn sie diesem nicht genügen würde, öffentlich
als mangelhaft dastehen würde. Sie zitterte vor Angst, so
unsicher war sie. Nicht besonders zu sein bedeutete für sie,
wertlos zu sein. Manche meiner sehr narzisstischen Klien­
ten glauben sogar an einer Bipolaren Störung zu leiden,
weil ihre Stimmungen sich so rapide ändern.

Weil sie sich nicht auf ein gesichertes Selbst verlassen
können?


Genau. Wenn wir in einer Umgebung aufwachsen, in
der unsere Eltern wirklich interessiert daran sind, zu ent­
decken, wer wir sind, worin wir gut sind, was wir mögen
und was nicht, dann unterstützt das unsere eigene Selbst­
suche. Wenn Eltern das nicht erlauben, unterdrücken
Kinder ihre natürlichen Reaktionen und entwickeln eine
Art falsches Selbst, das dem elterlichen Wertesystem ent­
spricht. Doch wer ein falsches Selbst hat, weiß das nicht
von sich. Es ist keine Maske, die man auf­ und absetzen
kann. Es ist das, was man glaubt zu sein.

Wie therapieren Sie Narzissten?
Narzissmus ist zunächst einmal ein Muster und kein
Mensch. Die Narzisstische Persönlichkeitsstörung be­
zeichnet eine Person, die in ihrem Gehirn eine bestimmte
Art abgespeichert hat, mit der Welt umzugehen. Die gute
Nachricht ist: Muster können verändert werden. Und von
denen, die ein solches Muster haben, haben manche ein
größeres Interesse, neue Dinge über sich zu erfahren, und
sie können leichter mit diesen Informationen umgehen
und sie in ihr Selbstbild integrieren – während andere aus
der Sitzung rennen und mich eine Idiotin nennen. Das ist
mir schon öfter passiert.


Und was passiert, wenn sie bleiben?
Für viele bin ich die letzte Hoffnung. Etwas ist vorgefallen,
das ihre Grandiosität hat zerplatzen lassen, und jetzt sehen
sie sich als totale Versager. Ich versuche dann erst mal, sie
aus ihrer De pres sion zu holen. Man kann keine Therapie
mit jemandem machen, der voller Scham und Selbsthass ist.
Wollen Sie wissen, wie das geht?
Ja.
Wenn sich jemand in diesem Zustand totaler Wertlosig­
keit befindet, ersetze ich das durch eine neue, positive
Geschichte. Wenn zum Beispiel jemand zu mir kommt,
der mein Buch gelesen hat und die Konzepte darin richtig
wiedergeben kann, dann sage ich, der Wahrheit entspre­
chend: Wow, ich bin beeindruckt, wie gut Sie komplizierte
Fachterminologie verstehen. Waren Sie schon immer an
Psychologie interessiert? Das ist der Punkt, an dem die
meisten Klienten schon glücklicher dreinschauen. Nach­
dem sie grundsätzlich eine instabile Meinung von sich ha­
ben, kann man sie auch ziemlich schnell in einen besseren
Zustand bringen, der gleichzeitig realistischer ist. Wenn
sie lange genug in Therapie bleiben, lernen sie, selbst um­
zuschalten, ein realistischeres Selbstbild zu haben und zu
halten. Manche Leute verlassen die Therapie allerdings in
dem Moment, in dem sie sich besser fühlen. Das muss ich
akzeptieren. Aber meine Tür steht ihnen weiterhin offen,
und manche kommen auch zurück.
Was ist der nächste Schritt?
Ihnen dabei zu helfen, zu begreifen, wie ihr Selbstbild wech­
selt, je nachdem, ob sie von außen bestätigt werden. Wir
reparieren noch nicht ihre Persönlichkeitsstörung, aber wir
legen die Grundlagen, um sich selbst besser zu verstehen.
Dann gibt es oft irgendeinen Riss in unserer Beziehung.
Wenn der klein genug ist, können wir ihn reparieren.
Wie sieht das aus?
Ich erinnere mich an einen narzisstischen Klienten, der sehr
abwertend war. Einmal kam er von meiner Toilette zurück
und schrie mich an: »Sie sind total unaufmerksam, so was
ist mir noch nie passiert« und so weiter. Als ich ihn fragte,
was passiert war, sagte er: »Sie haben keine Papierhand­
tücher! Ich musste ein Handtuch verwenden, das schon
andere benutzt haben!« Ich sagte: »Setzen Sie sich, lassen
Sie uns darüber sprechen. Das muss schlimm für Sie gewe­
sen sein, nach etwas zu suchen, was ich nicht hatte.« Und er
sagte »Ja« und schrie immer noch. Ich bat ihn dann, seinen
Standpunkt zu erklären, und erfuhr, dass er aus einem El­
ternhaus kam, in dem es normal war, einen Stapel frischer
Gästehandtücher bereitzuhalten. Ich sagte, ich könne sei­
nen Punkt verstehen, und weil es anderen vielleicht ähn­
lich gehe, würde ich mich nach einer Lösung umschauen.
Dieser Satz schien den Riss zu kitten, und er beruhigte sich.
Am Ende der Sitzung fing er an zu weinen und sagte: »Sie
haben mich nicht zurückangegriffen, als ich Sie angegriffen
habe.« Das war immer wieder seine Erfahrung im Leben
gewesen. Und dieser Akt – nicht zurückzuschlagen und ihn
zu verstehen – war der Schlüssel in seiner Therapie.
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