Die Welt Kompakt - 31.07.2019

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18 REPORT DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,31.JULI


S

heeeeeeeee-it. Um den
Fall von Baltimore, die
aktuelle Trump-De-
batte und den Streit
über die Situation der Stadt zu-
sammenzufassen, genügt dieses
eine Wort, ein lustvoll in die
Länge gezogener Fäkalausdruck.
In der Fernsehserie „The Wire“
ruft State Senator Clay Davis
immer dann „Sheeeeeeeee-it“,
wenn er schlechte Nachrichten
bekommt, und das geschieht
häufig.


VON HOLGER KREITLING

Davis ist ein korrupter Politi-
ker in Baltimore und Umge-
bung, ein Demokrat, schwarz,
bestens vernetzt, der große
Verdienste im Erschließen von
Wahlkampfspenden beweist.
Deshalb ist er für Baltimore so
wichtig, egal, was er sonst tut.
Der Schauspieler vertrieb noch
Jahre nach der Ausstrahlung
von „The Wire“ Plastikpuppen
von Clay Davis, die auf Knopf-
druck losschimpfen.
Ein Klick, „Sheeeeeeeee-it“.
„The Wire“ (lief 2002 bis
2008) ist wieder in der Diskus-
sion, seit Präsident Donald
Trump am Wochenende den
demokratischen Kongressabge-
ordneten aus Maryland, Elijah
Cummings, beschimpft hat.
Dessen Heimatstadt Baltimore
sei eine von Ratten und Nage-
tieren befallene Schweinerei,
der Wahlbezirk der schlimmste
der ganzen USA, kein Mensch
wolle da leben, twitterte Trump
und löste einen Aufschrei aus.
Im Nachgang nannte er Cum-
mings, der die Situation an der
Grenze zu Mexiko öffentlich-
keitswirksam kritisiert hatte,
einen Rassisten. Randy
Newman sangschon 1977, wie
schwer es sei, hier zu leben, in
der harten Stadt am Meer. „Oh,
Baltimore, man, it’s hard just to
live.“
„The Wire“ erzählt in fünf
Staffeln von Baltimore; es war
die neben den „Sopranos“
zweite Serie, die dem Kabel-
sender HBO Ruhm bescherte.
Kritiker streiten sich bis heute,
ob „The Wire“ die beste Serie
aller Zeiten sei oder doch die
„Sopranos“, beides sind im
Kern Gesellschaftserzählun-
gen. Und es ist dem krassen
Sozialrealismus von „The Wi-
re“ zu verdanken, dass die Zu-
stände und wechselseitigen
Abhängigkeiten der Milieus im
postindustriellen Baltimore
ziemlich bekannt sind. Die bis
heute hohe Mordrate der Stadt
ist ein Ergebnis der unverän-
derten Lage.
The Wire, das ist die Abhör-
methode, mit der die Polizei
den Dealern nahe rückt. Aber
ausgehend vom Drogenhandel
in West-Baltimore und der Ge-
walt zwischen den Gangs, zie-
hen sich die Drähte und Geld-
flüsse durch die ganze Stadt,
von den heruntergekommenen
Vierteln der Schwarzen im Ha-
fen zu den Gewerkschaften,
den Baustellen der gentrifizier-
ten Wohnkomplexe, ins Rat-


haus, zum Kongressabgeordne-
ten Clay Davis, der wiederum
lächelnd für die Drogenhändler
Geld wäscht, indem er Immobi-
lieninvestments vermittelt.
Es geht um den ausweglosen
Kreislauf der Drogenabhängig-
keit, um die wackeligen Statisti-
ken der Polizei, der Justiz, des
Bürgermeisters, es geht um die
Schulfinanzierung, das sinken-
de Bildungsniveau öffentlicher
Schulen, die Lügen der Verwal-
tung, eine allumfassende Kor-
rumpiertheit, die keinerlei
Fortschritt ermöglicht.

„The Wire“ hält sich an die
Genreregeln der Kriminaler-
zählung. In einer legendären
Szenerekonstruieren zwei Poli-
zisten einen Mord anhand von
Indizien und sagen über Minu-
ten nur „Fuck“, „Fuck me“ und
„Motherfucker“. Dennoch wird
die Dysfunktion des öffentli-
chen Sektors mit atemrauben-
der Präzision seziert, ohne das
Tun der kleinen und großen
Drogenhändler zu entschuldi-
gen. Die Figuren träumen

allesamt vom gesellschaftlichen
Aufstieg, von neuen Positionen,
Ämtern, Umsatzzahlen. Einer
der Drogenhändler nimmt
Abendstunden beim Marke-
tingprofessor und befragt ihn,
was er mit einem schwachen
Produkt in einem starken
Markt machen könne. Als Folge
werden Heroin- und Crack-
Päckchen namens Blue Tops
neu verpackt und als Red Tops
angeboten – mit Erfolg.
Präsident Obama ist ein gro-
ßer Fan der Serie, er lud David
Simon ins Weiße Haus ein, um

mit ihm über eine erfolgreiche
Drogenpolitik zu sprechen. Von
der Dringlichkeit und Genauig-
keit hat „The Wire“ nichts ver-
loren. Der Autor der Serie, Da-
vid Simon, war lange Polizeire-
porter der „Baltimore Sun“. Ein
Buch über die Polizei von Balti-
more war Vorlage für die Serie
„Homicide“. 1992 startete er
mit dem Ex-Polizisten Ed
Burns ein Projekt: „Wir gingen
zur Ecke Monroe/Fayette und
blieben ein Jahr.“ Das Buch

„The Corner“, ein nüchterner,
aber leidenschaftlicher Bericht
aus der Welt der Dealer und Ab-
hängigen, wurde zur Blaupause
von „The Wire“ – in Deutsch-
land 2012 erschienen mit dem
Untertitel „Bericht aus dem
dunklen Herzen der amerikani-
schen Stadt“.
Simon ist ein Chronist der
amerikanischen Gesellschaft,
wie es wenige gibt, der sich seit-
dem in Serien mit New Orleans
beschäftigt hat („Treme“), mit
der Abstiegsangst der Wohlha-
benden („Show Me a Hero“),
mit Prostitution in New York
City („The Deuce“). Seit vergan-
genem Samstag aber ist David
Simon, mittlerweile 59, zurück
bei „The Wire“. Nach der
Trump-Attacke postete der
„zornigste Mann des Fernse-
hens“ (Selbstbeschreibung) ein
Foto von sichvor seinem Haus
in Baltimore, um zu zeigen, dass
er gern dort lebt. Er verteidigte
die Stadt unmissverständlich
und zeigte seinen Unmutüber
den Präsidenten. Wenn dieser
rassistische Betrüger tatsächlich
„„„West-Baltimore auch nur fünfWest-Baltimore auch nur fünf
Minuten besuchen und Leute
treffen müsste, die es dort aus-
halten, würde er sich in die Ho-
sen machen“. Mehrfach legte er
nach, nannte Trump einen „ras-
sistischen Schwachkopf“, einen
„hohlen und egozentrischen

VVVersager“, einen „permanentenersager“, einen „permanenten
Schandfleck für unser Land“.
AAAls ob der Straßenslang von derls ob der Straßenslang von der
Ecke Monroe/Fayette, der sich
in der Serie in allen Schichten
wiederfindet, zurück ist.
Die Reaktionen kamen
prompt und zu Hunderten.
Seitdem debattiert David Si-
mon stündlich über „The Wire“
und was davon zu halten ist.
Denn natürlich werden die Zu-
stände, die in den schwarzen
Vierteln der Serie zu sehen
sind, mit den Trump-Vorwür-
fen gleichgesetzt, freilich ohne
die Analyse der wechselseitigen
Bedingtheit.
Mit großer Lust an unüber-
setzbaren Schimpfworten ant-
wortet Simon wütenden Le-
sern, die ihm Heuchelei, Irr-
glauben, Pharisäertum, Ausbeu-
tung von Schicksalen vorwer-
fen. „Wenn Fiktion ausbeute-
risch ist, dann gilt das für alle
Erzählungen. Ich habe Polizi-
sten ausgebeutet, Drogenhänd-
ler, Soldaten, Musiker, Politiker,
Prostituierte etc. Ich weiß, wie
man arbeitet. Ich bin gut dar-
in.“ Und nein, Trump habe
nicht recht.
Obwohl heftig über die Legi-
timation von Fiktion und Fern-
sehen gestritten wird, ist die
Debatte reichlich unintellektu-
ell und haltlos und zugleich vol-
ler Empathie. Simon stellt sich
mit einer Unbeirrtheit vor Balti-
more, wie seine Figuren in „The
Wire“ es tun, der irischstämmi-
ge Polizist Jimmy McNulty oder
der schwule Omar Little, der
Dealer überfällt. „It’s all in the
game.“ Als ihm ein Leser nahe-
legt, es mit den wütenden Sotti-
sen für heute gut sein zu lassen,
antwortet Simon: „Kümmere
dich um dich selbst. Das ist Per-
ffformancekunst; ich lächele nie,ormancekunst; ich lächele nie,
wenn ich tippe.“ Im Ton ist das
nah an einem anderen Schrift-
steller, der sich mit dem Dro-
genproblem der USA beschäf-
tigt, Don Winslow. Der Krimi-
autor hat zuletzt den dritten vo-
luminösen Band über den Dro-
genkrieg in Mexiko veröffent-
licht. In „Jahre des Jägers“ (im
Original „The Border“) kommt
ein Trump sehr ähnlicher Präsi-
dent vor. Die mexikanischen
Gangs brauchen dringend Mög-
lichkeiten, ihr Geld anzulegen,
sie finanzieren über den
Schwiegersohn des Präsidenten
den Um- und Neubau eines sei-
ner Hochhäuser in New York.
Das Geld landet beim Geld.
Winslow nutzt sein Buch am
Ende der fast 1000 Seiten für
eine Art politische Predigt, die
voll auf Trump zielt. Fiktion ist
nicht genug.
Zu Baltimore schrieb Wins-
low, man müsse dem Rassisten
Trump etwas entgegensetzen:
„Jede große Rebellion beginnt
mit einem Zündfunken.“ Die
Verzweiflung liberaler Milieus
über die Politik und Repräsen-
tation der USA bei gleichzeiti-
ger Machtlosigkeit führt zu
einer Tonlage, die kaum zu-
rückzudrehen ist, jedenfalls
nicht vor der Wahl.
Sheeeeeeeee-it.

Gewalt, Drogen, Korruption: Dafür steht Baltimore in der Serie „The Wire“

PICTURE-ALLIANCE/ MARY EVANS PI

Da kannst du nur noch


Sheeeeeeeee-itsagen


Präsident Trump hat Baltimore wüst beschimpft.


Die Fernsehserie „The Wire“ liefert die Hintergründe


David Simon ist ein Chronist


der amerikanischen Gesellschaft,


wie es wenige gibt

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