Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1

REAL EXISTIERENDER RASSISMUS UNFASSBAR, ABER WAHR ÜBER DEN HAUFEN GEWORFEN


VERGELTUNG IN BELFAST PIZZA RABIAT SUMPF OHNE GRENZEN


Der Thriller-Autor Max
Annas schreibt schneller,
härter, schnörkelloser als
die Konkurrenz. Das hat
ihm Preise und Ruhm ein-
gebracht. Doch in seinem
neuen Roman „Mord-
untersuchungskommis-
sion“ gestattet er dem Ermittler Otto Cas-
torp sogar ein paar Gedanken außer der
Reihe. Ein Mosambikaner ist in den 80er
Jahren in der DDR brutal ermordet wor-
den. Die Behörden wollen Oberleutnant
Castorp daran hindern, dem real existie-
renden Rassismus nachzugehen, denn den
darf es im Arbeiter-und-Bauern-Staat nicht
geben. Aber er begegnet ihm überall. Etwa
wenn ein Kneipenwirt gefragt wird, warum
denn auf einem der Tische eine mosambi-
kanische Fahne stehe – und der Mann sagt:
„Ja, die müssen ja auch irgendwo sitzen.“
Da riecht man das systemüberdauernde
Elend. Und freut sich, dass es Krimis gibt,
in denen mehr aufgeklärt wird als ein
Mord. (Rowohlt, 20 Euro) Stefan Schmitz

Die Geschichte klingt
schon sehr nach Klischee:
Ein Fremder dringt in die
Wohnung der 18-jährigen
Marie ein und vergewal-
tigt sie. Die junge Frau
geht zur Polizei. Doch Ma-
rie gehört nicht zu den
Frauen, denen man glaubt. Kindheit und
Jugend hat sie in Pflegefamilien verbracht.
Besonders gut reden kann sie auch nicht.
Schnell steht für die Polizisten fest: Marie
lügt, will Aufmerksamkeit. Sie wird wegen
„Falschaussage“ vor Gericht gestellt.
Unterdessen überfällt ihr Peiniger noch
mehr Frauen. Zwei Jahre dauert es, bis zwei
Ermittlerinnen Parallelen entdecken und
den Serienvergewaltiger dingfest machen.
Ein unglaublicher Fall. Ein wahrer Fall.
Den die amerikanischen Journalisten T.
Christian Miller und Ken Armstrong an-
hand von Ermittlungsakten rekonstruiert
haben – und dafür 2016 mit dem Pulitzer-
preis ausgezeichnet worden sind. (btb,
12 Euro) Kerstin Herrnkind

Der forensische Psychia-
ter Theo Faber tritt seine
Stelle in der geschlos-
senen Psychiatrie für
Schwerverbrecher an, fas-
ziniert von einem beson-
deren Mord: Die Malerin
Alicia Berenson hat ihren
Mann mit Draht an einen Stuhl gefesselt
und ihm dann fünfmal in den Kopf ge-
schossen. Seither schweigt „Die stumme
Patientin“, ein Bild bleibt ihre einzige
(stumme) Aussage. Theo tastet sich heran
und überschreitet schnell die Grenze zwi-
schen Therapeut und Patient, teilen er und
Alicia doch ähnliche Lebenswege: emotio-
naler Missbrauch in der Kindheit, Selbst-
mordversuche. Je näher Theo Alicia
kommt, desto mehr verschwimmt, wer
eigentlich wen behandelt. Der Brite Alex
Michaelides spielt in seinem Erstling mit
den Erwartungen der Leser, die glauben, sie
könnten die nächste Wendung voraussa-
gen. Es kommt meistens aber ganz anders.
(Droemer, 14,99 Euro) Mirijam Trunk

Wir wechseln zur Abküh-
lung nach Nordirland,
Belfast, 90er Jahre. Das
Wetter: nieselig. Die Stim-
mung: verzweifelt. In der
Stadt tobt ein Krieg zwi-
schen paramilitärischen
Banden: die republikani-
sche IRA gegen die loyalistische Ulster
Defence Association. Zu Beginn geht eine
Bombe in einer Videothek hoch, unter den
Toten auch Kinder. Niemand kommt zur
Besinnung. Wer könnte ein Überläufer
sein, wer ein Polizeispitzel? Kleine Regel-
verstöße ziehen brutale Strafen nach sich.
Wer Glück hat, bekommt eine Kugel nur in
die Knie. Jackie Shaw fuhr den Fluchtwa-
gen nach dem Bombenattentat. Kurz da-
rauf verschwindet er. 20 Jahre später taucht
er unversehens wieder in Belfast auf. Der
Krieg ist vorbei, die alten Krieger aber
drängen auf Vergeltung. Der Autor John
Steele springt in „Ravenhill“ zwischen
1993 und 2013 hin und her und zieht uns
tief rein in die heillose Welt von Belfast.
Puh, aber toll. (Polar, 20 Euro) Oliver Creutz

Geht man davon aus, dass
sich jeder Deutsche
durchschnittlich einmal
im Monat sein Essen nach
Hause bringen lässt,
öffnet er im Laufe eines
Jahres zwölf Mal einem
völlig fremden Menschen
seine Tür. Die Tür zu den eigenen vier
Wänden, dem Ort, an dem er sich sicher
glaubt. Für einige Frauen, allesamt jung
und bildhübsch, endete „Die Lieferung“
ihrer Pizza in einem Albtraum, offenbar
sind sie vom Überbringer verschleppt
worden. Die wahre Dimension dieser Ver-
misstenfälle erschließt der Autor Andreas
Winkelmann seinen Lesern aus unter-
schiedlichen Erzählperspektiven und auf
verschiedenen Zeitebenen. Mittendrin das
ermittelnde Hamburger Duo Jens Kerner/
Rebecca Oswald. Ein ziemlich cleveres,
fintenreiches und packendes Puzzle,
wie man es sonst eher von angelsächsi-
schen Krimis gewohnt ist. Zwar weniger
blutig, dafür genauso spannend. (Rowohlt,
9,99 Euro) Hanna Lüthi

Commissario Proteo Lau-
renti hat hier nichts mehr
zu melden. Nach zehn
Romanen degradiert Veit
Heinichen seinen Triester
Kripomann zum Statisten
und stellt die junge Poli-
zistin Xenia Zannier ins
Licht. Er schaltet außerdem vom komple-
xen Krimi- auf hochkomplexen Politthril-
ler-Modus. Um den Kern einer Rachege-
schichte – Xenia will sich für den Tod ihres
Bruders an einer korrupten Forza-Italia-
Senatorin rächen – konstruiert der Autor
ein furioses Szenario, das den Bogen vom
Balkankrieg in den 90er Jahren bis zu den
heutigen Flüchtlingsströmen nach West-
europa spannt. Vom BND lancierte Waffen-
schiebereien, Geldwäsche, Immobilien-
schwindel, Populismus: In nüchternem
Stil navigiert Heinichen in „Borderless“
seine Leser durch ein Figuren-, Schau-
platz- und Zeitebenen-Labyrinth. Ein toll
recherchierter Marsch durch den Macht-
und Gier-Sumpf internationaler Politik.
(Piper, 16,99 Euro) Bernd Teichmann

Priester – hier sind die Sommerkrimis


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