Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1
FOTOS: LORENZO PESCE/STERN; DPA

Capello wurde
1984 in Nuoro,
Sardinien, geboren.
Er begann eine
Profi-Fußball-
karriere als Tor-
hüter und spielte
2004 dreimal für
Italiens U20-Natio-
nalmannschaft. Er
war in mehreren
Klubs der zweiten,
dritten und vierten
Liga im Einsatz.
Für den heutigen
Erstligisten Cagliari

Calcio spielte er
in der Saison
2003/04 in der
Serie B. 2013 been-
dete er seine akti-
ve Zeit und wurde
Feuerwehrmann.
Am 14. August
2018 fuhr er
gerade über die
Morandi-Brücke
in Genua, als diese
einstürzte. Sein
Wagen blieb in
den Trümmern
stecken (kl. Foto).

F


ahren Sie wieder über eine Auto-
bahnbrücke?
Ja, ich nehme die Autobahn, und es
kommt vor, dass ich über Brücken
fahren muss, auch wenn die nicht so
hoch sind wie die Morandi-Brücke.
Haben Sie kein Problem damit?
Doch, ich kriege jedes Mal Beklemmungen,
fühle so einen Druck im Magen. Ich ver-
suche nicht daran zu denken und durch-
zufahren, aber wenn es auf der Brücke Stau
gibt, überfällt mich doch die Angst.
Sie wurden aus über 40 Meter Höhe
mit Ihrem Wagen in die Tiefe gerissen.
Wie „apokalyptische Szenen eines Films“
haben Sie das beschrieben. Wird man
diese Bilder wieder los?
Die Erinnerungsflashs werden seltener,
aber Fragmente dieses Tages kommen
noch hoch und schnüren mir die Kehle zu.
Diese Geschichte werde ich nie vergessen
können. Ich habe lernen müssen, damit zu
leben und so gelassen zu sein, wie es geht.
Was hat Ihnen geholfen, den Schock zu
verarbeiten?

Ich habe so schnell wie möglich mein
normales Leben wieder aufgenommen:
meine Arbeit, den Sport, meine Freunde.
Meine Familie und meine Freundin haben
mich aufgefangen. Wir stehen uns sehr
nahe, und diese Erfahrung hat uns noch
mehr zusammengeschweißt.
Sind Sie denn nach dem Aufprall heute
wieder richtig fit?
Nein. Ich habe noch Schmerzen im Rücken.
Ein Bandscheibenvorfall hat auch den
Ischiasnerv in Mitleidenschaft gezogen.
Ich hatte außerdem eine Verletzung an
der Schulter. Erst konnte ich nur schlecht
laufen. Ich trainiere aber mit einem Phy-
siotherapeuten, den ich mir weiter leiste.
Den müssen Sie selbst bezahlen?
Ja, ich bin für alle Behandlungskosten selbst
aufgekommen, für die Zuzahlungen der
Untersuchungen, den Traumatherapeuten
und für die Krankengymnastik. Ich bekam
keinerlei finanzielle Hilfe. Offiziell hatte
ich ja nichts.
Sie galten als „das Wunder von Genua“
und wurden über die sozialen Medien
überhäuft mit Zuschriften. War das für
Sie eher ein Fluch oder ein Segen?
Ich fand das gut, aber nennen Sie mich
bitte nicht „das Wunder“: Ich möchte nur
mein normales Leben zurück und basta.
Ich verstehe aber, dass ich innerhalb einer
Katastrophe so etwas wie einen Funken
Hoffnung darstellte.
War Ihnen eigentlich bewusst, was da
geschehen war?
Absolut. Nach dem Aufprall saß ich geistes-
gegenwärtig in meinem Auto, die Scheiben
waren von Regen und Schlamm verdun-
kelt. Ich tastete nach meinem Handy, rief
meine Kollegen von der Feuerwehr an und
dann meinen Vater. Mein erster Gedanke
war, die Rettungskräfte zu alarmieren.
Vor Kurzem wurden die Reste der Brücke
gesprengt. Haben Sie sich das angesehen?
Ja, ich war im Dienst und habe die Bilder
im Fernsehen auf der Feuerwache verfolgt.
Ich wurde richtig wütend, denn in den
Interviews kam heraus, dass die Brücke aus
Sicherheitsgründen schon 2003 gesprengt
werden sollte.
War der Einsturz eine angekündigte
Tragödie?
Heute würde ich sagen: Ja.
Die Brücke soll bis 2020 wieder aufgebaut
werden. Werden Sie darüberfahren?
Ich kann’s mir noch nicht vorstellen. An-
derseits ist die Verkehrssituation in Genua
derzeit chaotisch. Die Lastwagen zwängen
sich durch die Innenstadt, die Ausweich-
straßen sind total verstopft. Man braucht
mehr als doppelt so lang, um die Stadt zu
durchqueren. 2 Interview: Luisa Brandl

Beim Einsturz der Morandi-Brücke vor einem Jahr wurde der frühere
italienische Fußballprofi mit seinem Auto in die Tiefe gerissen

Davide Capello


Davide Capello, 34,
in Savona westlich
von Genua, wo er mit
seiner Freundin lebt


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