Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1

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FOTOS: PETER DENCH/STERN; JUDITH JOCKEL/STERN


Bückt sich nieder, drückt ihre Finger in
schmatzenden Torf und sagt triumphie-
rend: „Ein Stück Doggerland.“ Verrottete
Wälder, Farne und Büsche aus dem unter-
gegangenen Steinzeitparadies. Konserviert
in den Tonschichten auf dem Meeresbo-
den, von den Gezeiten freigespült und an
Land geworfen.
Das klare Licht lässt die bröckelnde
Lehmküste von Covehithe in sanften
Ockerfarben erstrahlen. Schicht um
Schicht türmen sich am Steilufer die Epo-
chen aufeinander. Abbruchkante der Zeit.
Davor liegt das Meer wie eine graue Folie.
Blackburn schaut über die weite Nordsee
und sagt: „Schmutzig und grau wie immer.
Sieht solide aus. Man hat das Gefühl, man
könnte drüberlaufen.“

Rekonstruktion eines Kontinents


Hinüber in das Land, aus dem ihr Ehemann
kam, der niederländische Bildhauer Her-
man Makkink. Nachdem er 2013 verstor-
ben war, begann sie, über Doggerland zu
recherchieren. Versuchte, den verlorenen
Kontinent zu rekonstruieren. So oft war
das Paar zwischen Suffolk und den Nieder-
landen hin- und hergereist. Wenn es ihr
jetzt gelang, dieses Atlantis wiederauf-
erstehen zu lassen, dann wäre es vielleicht
auch möglich, mithilfe reiner Fantasie eine
Brücke über den Styx zu erschaffen.
Hoch oben über der Klippe erscheint ein
Traktor. Ein Bauer pflügt haarscharf an der
Kante der Steilküste entlang. Bloß kein
Ackerland ungenutzt lassen. Maximale
Rendite. Wachstum, Wachstum, Wachstum.
So machen es alle Bauernkulturen, seit sie
die Jäger-und-Sammler-Gesellschaften vor
etwa 12 000 Jahren abgelöst haben.
Diese größte aller Kulturwenden in der
Geschichte der Menschheit fällt zusammen
mit dem langsamen Untergang von Dogger-
land. Mit steigendem Wasserspiegel begann
die Ära derer, die sich die Erde untertan
machten; derer, die immer bis knapp zur
Abbruchkante pflügen. Und nun droht wie-
der die Flut. Aber diesmal, weil wir schon zu
lange zu nahe an der Kante pflügen.
Von Doggerland habe er schon einmal
gehört, sagt der Bauer in seiner Kaffeepau-
se. Natürlich hätte er nichts dagegen, wenn
es noch existierte. Schließlich gäbe es dann
mehr Land zum Pflügen. Fünf Meter pro
Jahr verlieren sie hier durch Erosion. Zu
einem leidenschaftlicheren Europäer
mache ihn das Wissen um Doggerland
allerdings nicht. Klar, gegen eine engere
Verbindung mit den Niederlanden oder

der Wellen und der wachsende Druck von
sich ablagernden Bodensedimenten setz-
ten die Gestade großer Belastung aus. An
der Küste Norwegens löste sich eine riesi-
ge Landmasse und stürzte in den Atlantik.
So groß war dieser Brocken, dass er einen
gigantischen Tsunami verursachte. Auf
den Shetland-Inseln brachen sich mehr
als 20 Meter hohe Wellen. In der Nähe
des schottischen Inverness wurden Stein-
zeitmenschen an ihrem Lagerfeuer über-
rascht. Archäologen fanden dort eine
prähistorische Feuerstelle, die mit einer
25 Zentimeter dicken Sand- und Kies-
schicht bedeckt war.
Der Tsunami schwemmte die letzten
Reste der Landbrücke zwischen Großbri-
tannien und den Niederlanden hinweg.
Das europäische Jäger-und-Sammler-
Paradies war untergegangen. Archäologen
nennen die versunkene Welt „Doggerland“.
Die britische Schriftstellerin Julia Black-
burn wandert mit weit ausholenden
Schritten hinunter zum Meer. In der Fer-
ne zeichnen sich Baumskelette vor dem
golden leuchtenden Strand von Cove hithe

ab. Das hier ist Großbritannien. Noch im-
mer Europa. Man soll es kaum glauben.
Dieser Streifen lehmiger Steilküste ist eine
Fundgrube für Fossilienjäger. Immer wie-
der blitzen Überreste einer untergegange-
nen Welt zwischen den Strandkieseln auf.
Im Mittelalter war Covehithe ein prospe-
rierender Hafen. Doch die einstige Pracht
ist weggespült. Vom ehemaligen Glanz
zeugen heute nur noch die Ruinen der
mächtigen Kathedrale. Der Ort hat mit die
höchste Erosionsrate Großbritanniens.
Mensch und Wasser, eine Wechselbezie-
hung von Wertschöpfung und Zerstörung.
Zielstrebig steuert Julia Blackburn auf
einen schwarzen Klumpen im Sand zu.

Die Menschen in dieser Geschichte sind
Jäger, Sammler, Fährtenleser. Sie versuchen
zu verstehen, wie der Menschheit eine ihrer
größten Kulturleistungen gelungen ist: die
Anpassung an dramatisch wechselndes
Klima. Sie suchen eine Welt, die unwieder-
bringlich verschwunden ist. Beschwören
ein Land, in dessen Mitte Themse und
Rhein in einem riesigen See zusammen-
flossen. Die Menschen in dieser Geschich-
te suchen nach dem Herzen von Europa.
Es gab ein europäisches Paradies. Ein
Land des Überflusses, der reichen Böden.
Es ist untergegangen, vor mehr als 8000
Jahren. Hunderttausende Jahre lag es zwi-
schen der Küste der britischen Grafschaft
Suffolk und den Niederlanden. Dort,
wo heute die Nordsee wogt, war Festland.
Vor der letzten großen Eiszeit wanderten
dort Mammutherden über die sanften
Hügel einer ausgedehnten Steppenland-
schaft. Auerochsen, Bisons und Wollnas-
hörner grasten auf weiter Flur, umschli-
chen von Säbelzahnkatze, Höhlenlöwe
und Riesenhyäne.
Nach der letzten Kaltzeit waren die gro-
ßen Urzeittiere verschwunden. Nun zogen
Hirsche und Kleinwild über die Ebenen.
Je wärmer es wurde, desto höher stieg der
Meeresspiegel. An den Ufern entstanden
Sümpfe. Wo zuvor Kaltsteppe war, wucher-
te nun dichter Wald.
Kleine Gruppen von Jägern und Samm-
lern, die am Mittelmeer die Eiszeit über-
standen hatten, durchstreiften die nörd-
lichen Landschaften auf der Suche nach
Beute. Erst brachte der steigende Meeres-
spiegel Fruchtbarkeit, dann Zerstörung.
Das Steinzeitparadies wurde immer klei-
ner. Immer mehr Jäger und Sammler
zogen sich in das heutige Großbritannien
zurück. Die Vorfahren vieler Brexit-Wäh-
ler sind prähistorische Klimaflüchtlinge.
Mit fortschreitender Erderwärmung
fluteten immer gewaltigere Wassermassen
von den abschmelzenden Gletschern Nord-
amerikas an die Küsten Europas. Die Wucht 4

Schädel eines Mammutbullen

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