Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1
wo sie sich auf die Jagd nach Millionen Jah-
re alten Haifischzähnen macht. Wortlos
marschiert sie über den glitschigen Ton
und verschwindet in der Ferne, den Blick
gesenkt, immer auf der Suche nach der
Erleuchtung, die etwas Licht bringen
könnte ins Gefängnis der Zeit.
Bevor wir Blackburn wiedersehen
werden, machen wir einen Abstecher ans
östliche Ende von Doggerland, einmal
über die Nordsee, ins niederländische Urk.
Das malerische Fischerdorf war einst eine
von Fluten und Hochwasser bedrohte
Insel, bevor das gesamte Umland durch
das riesige Deich- und Pumpwerksystem
Zuiderzeewerke trockengelegt wurde.
Anders als in Doggerland haben die Men-
schen hier den Kampf gegen das Wasser
gewonnen. Bis jetzt.

Vor einer Lagerhalle im Industriebezirk
von Urk sitzt ein Mann im Blaumann und
poliert mit einem Elektroschleifer einen
Mammutstoßzahn. Das Fossil wurde erst
kürzlich aus der Nordsee gefischt. Orange,
ocker und weiß leuchtet 30 000 Jahre altes
Elfenbein in der Sonne. Feiner Knochen-
staub umhüllt das bärtige Gesicht des
Mannes. In der milden Luft hängt ein Duft
von verbranntem Horn.
Der bärtige Mann war früher Fischer
und arbeitet heute für das Unternehmen
North Sea Fossils. Seit über hundert Jah-
ren ziehen holländische Fischer immer
wieder Fossilien aus dem Meer. In ihren
Schleppnetzen verfangen sich die Relikte
aus Doggerland. Seit nun schon mehr als
20 Jahren kaufen die Fossilienjäger von
North Sea Fossils den Fischern ihre Fun-
de ab. Gehen morgens früh an den Hafen
und schauen, was sich in den Netzen ge-
fangen hat. Kaufen kistenweise Knochen.
Identifizieren die Funde, bereiten sie
auf. Die wissenschaftlich interessanten
Knochen gehen an Museen, der Rest an pri-
vate Käufer. Ein Mammutstoßzahn kostet
hier bis zu 12 000 Dollar.
Dick Mol ist Partner und Berater von
North Sea Fossils. Im Hauptberuf arbeitet
er beim Zoll am Amsterdamer Flughafen
Schiphol, doch seine Leidenschaft gilt den
Fossilien. Seit seiner Kindheit sammelt er.
Er ist immer Amateur geblieben, hat sich
jedoch in all den Jahren zu einem der welt-
weit größten Mammut-Experten entwi-
ckelt. Seit Jahrzehnten untersucht er die
Nordseefunde. Kaum ein Forscher hat so
viel von Doggerland gesehen wie Dick Mol.
Mit energischen Gesten pflügt er durch
die Jahrtausende. Mol betrachtet Dogger-
land im Lichte der globalen Klimaver-
schiebungen. „Vor Millionen Jahren war
West- und Mitteleuropa so etwas wie die
Serengeti des Nordens“, sagt er. Im Durch-
schnitt war es damals etwa drei Grad wär-
mer als heute. Flüsse wie Themse, Rhein
und Maas strömten in Doggerland zu
einem riesigen See zusammen. Der hatte
sein Delta im Süden der heutigen Nordsee.
Dick Mol ist ein bulliger Kerl mit dem
Händedruck eines Ringers. Jahrzehntelang
hat er die Hubkraft seiner Vorstellung an
der Megafauna der Urzeit trainiert. Er sagt:
„Wenn man sich an dieses Delta gesetzt
hätte, hätte man riesige Herden von Mam-
muts sehen können, die hierherkamen, um
ihren Durst zu löschen.“ Sofort spürt man
bei ihm so eine Sehnsucht, den Boden mal
mammutmäßig wackeln zu lassen. Er

Dänemark hätte er nichts. Aber mit Grie-


chenland möchte er lieber nicht allzu viel


zu tun haben.


Blackburn schüttelt den Kopf. Sie ver-


zweifelt am Brexit. Doch dann wendet sie


sich wieder dem Meer zu und wird ruhig.


„Ich liebe es hier“, sagt sie. „Hier gibt es


nichts zu sehen. Du meditierst. Und dann


findest du: ein Stück Torf, ein Fossil, ein


prähistorisches Werkzeug aus Doggerland.


Plötzlich siehst du die Vergangenheit auf-


blühen. Wie in einer Erleuchtung.“


In ihrem jüngsten Buch „Timesong:


Searching for Doggerland“ (bislang nur auf


Englisch erhältlich) lässt die Autorin die


ganze versunkene Welt wiederauferstehen.


Dafür hat sie Archäologen interviewt, sich


von Kuratoren Museumsschätze zeigen


lassen und hat Fossiliensammler besucht.


„Ich habe versucht, die lineare Zeit zu


durchbrechen. Sie ist nichts als ein künst-


liches Konstrukt“, sagt Blackburn. „Wir


schauen immer in die Zukunft. Aber die


Steinzeitmenschen schauten zurück in


ihre Vergangenheit, um einen Sinn für


Ewigkeit zu bekommen. Das wissen wir


aus ethnologischen Studien von ursprüng-


lichen Jäger-und-Sammler-Kulturen wie


den Netsilik-Inuit in der Arktis. Nicht in


die Zukunft schauen, sondern in die Un-


endlichkeit der Vergangenheit: Das ist es,


was wir von diesen Jägern und Sammlern


lernen können.“


Blackburn selbst ist Jägerin und Samm-

lerin. Durchstreift stundenlang die Küsten


ihrer Heimat Suffolk auf der Suche nach


Fossilien. Und jedes Mal, wenn sie ein be-


deutsames Objekt in den Händen halte,


sagt sie, zerreiße der Zeitschleier, und sie


verspüre eine Ahnung von Unendlichkeit.


Werde eins mit der Welt. Und mit Herman,


ihrem verstorbenen Mann.


Blackburn lebt in einem kleinen Holz-


haus etwa 16 Kilometer entfernt von der


Küste. Es ist eine einzige Wunderkammer.


Neben WLAN-Router und Obstschale


liegen eine Mammuthüftpfanne und meh-


rere Faustkeile. Immer wieder treibt es sie


an Orte, die den Menschen eingebettet


zeigen in die großen, urzeitlichen Zusam-


menhänge.


„Wir brauchen eine neue Demut“, sagt sie.

„Jede Klimaumwälzung ist stärker, als wir


es uns je vorstellen können. Der Tsunami,


der Doggerland hinweggespült hat, beweist,


dass Klimaveränderungen ganz ungeahn-


te Folgen haben. Als das Wasser in Dogger-


land stieg und stieg, wuchs auch die Gewalt.


Archäologen finden aus dieser Zeit ver-


stärkt Spuren von Konflikten: Immer mehr
Menschen wurde der Schädel zertrümmert.
Die Ankunft der Klimaflüchtlinge aus Dog-
gerland führte zum Kampf um Ressourcen
auf jenem Gebiet, das heute Großbritannien
ist. Das Essen wurde knapp. Die Landschaft
wurde unheimlich: Skelette ertrunkener
Bäume, stinkende, düstere Sümpfe. Aus die-
ser Zeit findet man immer mehr rituelle
Opfergaben in den Böden. Die Menschen
haben versucht, die unheimlichen Mächte
der Erde zu besänftigen.“
Wir lassen Julia Blackburn für einen
Moment zurück an der Küste von Suffolk,

Mammut-Experte Dick Mol im Ausstellungsraum
von North Sea Fossils im niederländischen Urk

Kunst aus Doggerland: ein etwa
8500 Jahre altes, verziertes Hirschgeweih

30 1.8.2019

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