Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1

FOTOS: JUDITH JOCKEL/STERN; STEPHAN MAUS/STERN; IMAGO


spricht fließend Deutsch. Die Worte „Durst
löschen“ klingen bei ihm wie das Rauschen
einer mächtigen Stromschnelle. „Bis zu 300
Liter Wasser brauchten die Grasfresser
am Tag“, fährt er fort. „Hob man den Blick,
konnte man am Horizont ein Flusspferd
beobachten. Und plötzlich taucht eine
Säbelzahnkatze auf. Langsam schleicht sie
sich an, um ein Jungtier von der Mammut-
herde wegzutreiben und zu töten.“
Mols Augen leuchten auf. In seinem Ge-
biss blitzen hin und wieder Goldspangen,
die einige seiner Zähne halten. Die sehen
dann aus wie die kostbaren Elfenbein-Ex-
ponate im Ausstellungsraum von North
Sea Fossils.
Mol skizziert die großen Klimaumwäl-
zungen: „Vor 50 000 Jahren verwandelte
sich die Savanne in einen riesigen Steppen-
gürtel, der von Alaska über die Beringstra-
ße, Russland und Nordeuropa bis hinüber
nach Schottland verlief. Mammutherden,
Auerochsen und Steppenrinder durchwan-
derten diese Grassteppe. Es war trocken,
kalt und baumlos. Am ehesten ähnelt die-
se Landschaft den Steppen des heutigen
Kasachstan.“
Der Grasgürtel war ein riesiger Mam-
mut-Highway, über den Millionen von

waschen sie sich im Fluss. Dann tragen sie
das Fleisch in ihr Lager. Sie wohnen in Hüt-
ten, die mit Tierhäuten ausgekleidet sind.
Hier leben Gruppen von etwa hundert
Menschen miteinander. Hier stellen sie
ihre Werkzeuge aus Feuerstein her.“
Dick Mol hat viele ihrer Werkzeuge aus
Feuerstein gefunden. „Diese Jäger und
Sammler waren sehr geschickt“, sagt er.
„Man kann ihre Steinkeile sofort unter-
scheiden von Werkzeugen aus früheren
Epochen. Sie sind kleiner und raffinierter
als die Faustkeile von Neandertalern. Man
kann mit ihnen sehr gut Fleisch zerteilen.“
Mol bekommt jetzt langsam Hunger.
Doch bevor wir frischen Matjeshering es-
sen gehen, muss noch der Ursprung von
Mols wertvollstem Schatz erzählt werden.
Er richtet sein inneres Auge auf das Lager
im Mesolithikum und hebt an: „Am Feu-
er sehen wir einen älteren Herrn. Er schärft
Feuersteine. Gleich neben ihm sitzt ein
junger Mann. Vor einigen Tagen hat er ein
Geweih gefunden, das ein Rothirsch abge-
worfen hat. Nun stellt er aus den Geweih-
sprossen Pfeilspitzen für Harpunen her.
Damit wird er später fischen gehen. Plötz-
lich sticht dem jungen Jäger ein besonders
wohlgeformtes Geweihstück ins Auge.

Tieren zogen. Dick Mol und seine Partner
haben Abertausende Skelettteile aus der
Nordsee gefunden.
„Vor etwa 30 000 Jahren wurde es dann
sehr viel kälter“, sagt Mol. Doggerland
verwandelte sich in eine Polarwüste. Vor
11 700 Jahren wurde es schließlich drama-
tisch wärmer. Die Erde kam näher an die
Sonne. Weltweit stieg der Meeresspiegel
um über 100 Meter. Es entstand eine voll-
kommen neue Geografie. Das Meereswas-
ser verdampfte im erwärmten Klima und
kam als Niederschlag herab. Die kahlen
Steppen von Doggerland verwandelten
sich in dichte Wälder.

Alltag in Doggerland


Die Menschen folgten ihrer Jagdbeute von
Süden nach Norden: Elch, Rothirsch, Reh,
Wildschwein, Otter und Biber. Von all die-
sen Tieren finden sich Überreste in den bun-
ten Plastikkisten von North Sea Fossils.
Dick Mol hat den Alltag in Doggerland
genau vor Augen: „Wir sehen eine kleine
Gruppe von Männern. Unsere Vorfahren
aus dem Mesolithikum. 10 000 Jahre vor
unserer Zeit. Sie tragen ein Wildschwein
ans Ufer des Ur-Rheins. Nahe am Wasser
zerlegen sie das Tier. Nach getaner Arbeit 4

Die Küste von
Covehithe in Suffolk
hat eine der größten
Erosionsraten
Großbritanniens.
In den Erdschichten
finden sich zahllose
Zeugnisse aus
der europäischen
Vorgeschichte

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