Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1
Er poliert es mit Sand. Dann nimmt er
einen seiner scharfen Feuersteine zur
Hand und verziert das Geweih mit kleinen,
regelmäßigen Ritzungen. Nachdem er sei-
ne Arbeit vollendet hat, steht er auf, geht
hinüber zu einer schönen Frau und
schenkt ihr sein Kunstwerk.“
8500 Jahre später entdeckten die Män-
ner von North Sea Fossils das verzierte
Hirschgeweih in einer Kiste bei den Fi-
schern am Hafen. Es gilt als eines der ältes-
ten Kunstwerke der Niederlande.
In den vergangenen Jahren konnten For-
scher mithilfe von Ultraschallaufnahmen
des Nordseegrundes die Geografie von
Doggerland genau bestimmen. Dank Mee-
resbodenkarten und archäologischen Fun-
den kann man sich heute ein gutes Bild
vom Leben im Steinzeitparadies machen.
Doggerland wies weite grüne Ebenen und
bewaldete Hügel auf. Die fruchtbare, wild-
reiche Landschaft war von Flüssen durch-
zogen, die in Seen oder geschützte Meeres-
buchten mündeten. Die Flüsse waren die
Lebensadern der Steinzeitmenschen. An
ihren Ufern lebten sie in Zelten oder Hüt-
ten. In grob behauenen Einbäumen gingen
sie auf Fischfang und paddelten über die
Wasserstraßen, um benachbarte Stämme

zu besuchen und Handel mit ihnen zu trei-
ben. An den Flussufern sammelten sie Bee-
ren und Haselnüsse. Hier fanden sie auch
Schilf, aus dem sie ihre Körbe und Reusen
flochten. Aus Geweih, Knochen oder Stein
fertigten sie scharfkantige Spitzen für ihre
Holzspeere. Zur Beschleunigung dieser
Waffen erfanden die Jäger eine Speer-
schleuder, mit deren Hilfe der Wurfarm
verlängert wurde. So erreichten die Spee-
re eine Geschwindigkeit von bis zu 150
km/h. Derart ausgerüstet, gingen die
Doggerländer in den üppigen Wäldern auf
Rentier- und Wildschweinjagd. Knochen-
funde in der Nordsee belegen, dass sie
manchmal sogar einen massigen Wisent
erlegen konnten. Ihre Beute garten die Jä-
ger über dem Feuer. Das soziale Leben der
Doggerländer war weit entwickelt: Man
trug Schmuck und begrub seine Verstor-
benen. Als der Tsunami Doggerland weg-
spülte, stand hier die Steinzeitzivilisation
der Jäger und Sammler in höchster Blüte.

Drei Versehrte auf der Jagd


Zurück in Suffolk. Immer wieder sind es
Amateure, die mit ihren Funden die Ge-
schichte der Archäologie neu schreiben.
Einer von ihnen ist Bob Mutch. 2001 ent-

deckte er zusammen mit seinen Freunden
Paul Durbridge und Adrian Charlton ural-
te Faustkeile am Strand von Pakefield in
Suffolk, nur wenige Kilometer entfernt von
Julia Blackburns Zuhause. Es war eine
Sensation. Die Werkzeuge bewiesen, dass
schon vor 700 000 Jahren steinzeitliche
Pioniere auf englischem Boden siedelten –
200 000 Jahre früher als gedacht.
Es waren nicht zuletzt Mutchs lebendi-
ge Erzählungen, die Julia Blackburn dazu
bewogen haben, ihr Buch über Doggerland
zu schreiben. Zusammen besuchen wir den
Archäologen.
Bob Mutch wohnt mit seiner Frau in
einem Reihenhaus in Pakefield. Im Wind-
fang lebt ein einsames Kaninchen. Sein
Kaninchen-Partner ist vor Kurzem erst
gestorben. Im Haus buhlt ein Hund um
Aufmerksamkeit. Bob sitzt in einem Ses-
sel in einem überheizten Wohnzimmer. Er
ist sehr krank, kann sich kaum bewegen.
Doch sobald er von seinem Fund erzählt,
scheint er aus seinem geschundenen Kör-
per herauszutreten. Vorgebeugt stützt er
sich auf seinen handgeschnitzten Krück-
stock aus irischem Weißdorn und taucht
in Strandabenteuer, für die er heute zu
schwach ist. Er erinnert sich an die Zeit, als

2016 spülte die
Nordsee in der eng-
lischen Grafschaft
Northumberland einen
uralten Doggerland-
Wald frei. Die Stämme
waren von schützenden
Torf- und Sandschichten
konserviert worden


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