Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1
In der Steinzeit versuchten die
Menschen, den Klimawandel mit
rituellen Opfergaben zu steuern.
Stephan Maus bedauert, dass unsere
Spezies heute noch nicht sehr viel weiter ist

FOTOS: NORTH NEWS & PICTURES LTD; PETER DENCH/STERN (2)


er noch runter ans Meer konnte. Als er mit
seinen Freunden auf die Jagd nach Zeug-
nissen aus der Steinzeit ging. Der muskel-
kranke Bob, der krebskranke Paul und der
Autist Adrian. In der Gegenwart mochten
die drei Freunde vielleicht hinken, stol-
pern und straucheln. Aber niemand be-
wegt sich so geschmeidig durch die Ver-
gangenheit wie sie.
Die drei Versehrten waren ein unschlag-
bares Team. Bob hatte das beste Gespür für
interessante Sammelgebiete. Schon als
Junge hatte er die Küste zwischen Cove-
hithe und Pakefield auf der Suche nach
Fossilien durchstreift. Paul hingegen war
der Wissenschaftler des Teams. Niemand
wusste die Funde so gewissenhaft zu do-
kumentieren wie er. Und Adrian besaß ein
geradezu fotografisches Gedächtnis. Konn-
te Paul wegen Kälte und Nässe die Fund-
orte nicht mit seiner Kamera festhalten,
musste Adrian einspringen: Legten sie im
Pub ihre Funde auf den Tisch, wusste er
sofort, welches Fragment von welchem
Strandabschnitt stammte. Außerdem be-
saß niemand ein so zuverlässiges Auge wie
er. Er schien ein inneres Sonar für archäo-
logische Schätze zu haben.
Bob Mutch erinnert sich genau an den
Tag, als sie die Werkzeuge entdeckten: „Da,
wo wir die Faustkeile gefunden haben, war
vor Hunderttausenden von Jahren ein
Flussufer. Heute ist dort alles voller Müll.
Dort machst du dich also auf die Suche.
Und bekommst durch reinen Zufall einen
Schnappschuss von diesen Jägern und
Sammlern, die dort vor 700 000 Jahren
gelebt haben.“
Mutch fährt fort: „Einer von ihnen sitzt
dort am Strand von Pakefield und macht
seine Werkzeuge. Das wissen wir, denn
neben den Faustkeilen haben wir auch
noch den Steinblock gefunden, aus dem sie
herausgeschlagen worden sind. Alles lag
noch an derselben Stelle, wo der Jäger es
hat fallen lassen. Die Werkzeuge waren
unbenutzt. Daraus können wir schließen,
dass dieser Jäger durch etwas aufge-
schreckt worden sein muss. Etwas Furcht-
bares. So schrecklich, dass er seine wert-
vollen Werkzeuge liegen gelassen und die
Flucht ergriffen hat. Ein Löwe, Bär oder
eine Hyäne wird ihn überrascht haben.
Mit seiner Steinklinge hatte der Jäger
keine Chance gegen diese Tiere.“
Bob hat inzwischen seine gesamte
Sammlung an das örtliche Museum gege-
ben. Nur drüben im Windfang bei dem ein-
samen Kaninchen bewahrt er noch eine

nur ein halbes Dutzend Rentner. Während
der Moderator versucht, „fun, fun, fun“ zu
verbreiten, erklären sich die Rentner ein-
ander aufgeregt die Spielregeln.
Nebenan lockt ein Automatenraum mit
kostbaren Relikten der Gamer-Kultur aus
den 80er Jahren. Zwei tätowierte Männer re-
parieren ein Groschengrab, stecken dabei bis
zu den Armen in Geldstücken und wühlen
darin herum, als vermuteten sie irgendwo
auf dem Boden ein kostbares Fossil.
Draußen, wo vor Tausenden von Jahren
die Fauna von Doggerland umherschlich,
befindet sich ein Zoo – kein echter, sondern
einer mit Löwen, Rhinozeros und Nilpferd
aus Plastik. „Füttern verboten“ steht auf
einem Schild.
Julia Blackburn streift mit dem Blick
einer amüsierten Anthropologin über das
Gelände und bleibt vor ausgeblichenen
Spielgeräten stehen: „Sieht aus wie die
Zeugnisse eines fremden Kultes“, sagt sie.
„Das hier ist das Endstadium der Bauern-
kultur, die mit dem Untergang von Dog-
gerland begann: anbauen, ernten, sparen.
Und über allem schwebt die Idee, dass Frei-
zeit das Beste ist. Das hier ist ein Tempel.
In hunderttausend Jahren wird man sich
vielleicht fragen, wer ihn erschuf. Welcher
seltsamen Zivilisation er wohl angehört
hat. Und welchen seltsamen Göttern er ge-
huldigt hat. So, wie man hölzerne Struktu-
ren aus Doggerland gefunden hat, von
denen man auch nicht weiß, was es war.“
Vor dem Schwimmbad, das hier „H 2 O-
Zone“ heißt, steht ein Ballerspiel. Für ein
Britisches Pfund kann man aus einem be-
weglichen Elefantenrüssel auf Plastiktie-
re in einer bunten Urwaldkulisse schießen:
Löwe, Elefant, Affe. Das Spiel heißt „ Jungle
Blasta“.
Nicht weit von der Stelle, wo Bob Mutch
die Werkzeuge von einigen der ersten Pio-
niere auf britischem Boden fand, steht ein
Mülleimer in Gestalt eines roten Plastik-
pinguins. In seinem gelben Schnabel ver-
rottet eine Zigarettenkippe.
Jungle Blasta, Groschengrab, Plastikpin-
guin. Wachstum, Wachstum, Wachstum.
Und als Lohn zehn Tage Vollpension im
modrigen Ferienpark. Dafür sollen 700 000
Jahre Zivilisation gut gewesen sein?
Das darf nicht alles gewesen sein. 2

Julia Blackburn führt uns an jenen Ort,
wo vor 700 000 Jahren ein Urzeitpionier
seine Werkzeuge bei der Flucht fallen ließ.
Heute befindet sich dort eine Feriensied-
lung der Tourismus-Kette Pontins. Das
Unternehmen wurde Ende der 40er Jahre
gegründet, um der Arbeiterklasse beschei-
dene Fluchten aus ihrem Alltag zu verkau-
fen. Auf dem Schild am Eingang verkün-
det ein fröhliches Comic-Krokodil das
Motto des Ferienparks: „Fun, fun, fun.“
Die verwitterten Ferienbaracken sind
von den Zeitläufen so gebeutelt wie die
Menschen, die in ihnen „fun, fun, fun“
haben sollen. Auf der Bühne einer riesi-
gen Veranstaltungshalle sitzt ein junger
Moderator und heizt dem Saal für ein
Quizspiel ein. Er schreit, als müsste er Tau-
sende von tobenden Wrestling-Fans im
Zaum halten. Dabei sitzen an den Tischen

einzelne Tupperdose auf. Darin ist ein gro-
ßer brauner Mammutknochen.
Das größte Rätsel der Archäologie ist für
Bob Mutch die Frage, warum seine europä-
ischen Pioniere über die Alpen und die
Pyrenäen bis in den Norden kamen. „Was
hat sie angetrieben?“, fragt er. „Warum ka-
men sie ans Ufer eines kleinen Flusses in
Pakefield? Bevölkerungsprobleme existier-
ten damals noch nicht.“ Für Bob gibt es
keinen anderen Grund als Neugier. Der An-
trieb, der ihn noch immer runter an den
Strand führen würde – wenn er noch lau-
fen könnte.

Der Archäologe Bob Mutch in seinem Haus
in Pakefield, Großbritannien

Fragment einer Mammutrippe

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