Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1
Und doch sind schon elementare Wesenszüge
Merkel’scher Politik an diesem Sonntag im Kaukasus zu
erkennen. Der fast unerschütterliche Stoizismus, mit
dem sie dem fahrig wirkenden georgischen Präsidenten
Saakaschwili begegnet. Die protestantische Einsicht in
das oft groteske Missverhältnis von Aufwand und Er-
trag in der Politik. Sieben Stunden Flug, zwei Stunden
Aufenthalt, ein Pressestatement, eine Botschaft. Politik
als zäher Prozess. Als ewiges „weiter, immer weiter“. Oft
auch nur als schlichte Aneinanderreihung von Wortbla-
sen, von Banalitäten. Damit kein Vakuum entsteht.
In Tiflis sagt sie den Satz: „Georgien wird, wenn es das
will, und das will es ja, Mitglied der Nato sein.“ Für die-
se Haltung wird sie von Gerhard Schröder kritisiert, dem
Mann, der ihr Vorgänger war, der Saakaschwili für einen
„Hasardeur“ hält und nun für Gazprom arbeitet. Noch
so eine Konstante.
War sie guter Dinge damals? Optimistisch? Gewillt,
die Welt zu verbessern oder zumindest im Gleichge-
wicht zu halten? Noch unverbraucht, noch nicht bereit,
den täglich wachsenden Erfahrungsschatz zur eigenen
Desillusionierung zu verwenden? Die Bilder von damals
geben keine hinreichende Auskunft. Sie zeigen sie lä-
chelnd, konzentriert. Merkel-Bilder. Dutzendware. Der


  1. August 2008 ist kein Tag, den sie sich merken muss.
    Da gibt es viele, die wichtiger waren. Wichtiger werden.
    Exakt acht Wochen noch, dann hat sie ihren ersten
    Kanzler überholt, Kurt-Georg Kiesinger, der die Große
    Koalition angeführt hat. Nur 1055 Tage war er im Amt.
    Man vergisst so etwas ja manchmal – wie kurz eine
    Kanzlerschaft sein kann. All die Ziele, Ambitionen. Zack.
    Und schon wieder vorbei. Ludwig Erhard (1142 Tage), den
    nächsten in der Reihe, hat sie am 6. Januar 2009 einge-
    holt. Nichts, was sie sich im Kalender angestrichen
    hätte. So wie den Besuch tags zuvor. Die Sternsinger
    waren im Kanzleramt. Merkel singt so gern.
    Ihr Sommer 2008 ist der letzte Sommer der Unbe-
    schwertheit, wenn man das in diesem Amt überhaupt
    sagen kann. Die großen Krisen werden kommen. Schon
    bald. Sieben Wochen nach Tiflis, wieder ein Sonntag, da
    steht sie mit ihrem Finanzminister Peer Steinbrück auf
    den Stufen des Kanzleramts und verkündet der sparen-
    den Nation: „Ihre Einlagen sind sicher.“ Kurz zuvor ist
    klar geworden: Das Bankenwesen droht zu kollabieren.


A


n diesem Mittwoch hat Angela Merkel die 5000 vollgemacht.
Respekt! 5000 Tage im Kanzleramt – das ist ein Brett.
Zeit also für einen Rückblick auf die Merkel-Langstrecke. Aus
Platzgründen, das werden Sie verstehen, gerafft in 1000er-
Schritten. Fußstapfen einer Ära, die am 22. November 2005
begann, dem Tag, an dem sie gewählt und vereidigt wurde im
Deutschen Bundestag als erste Kanzlerin in der Geschichte
der Republik. Als „starkes Signal für viele Frauen und manche
Männer sicherlich auch“, wie es der damalige Bundestagspräsident Norbert
Lammert lakonisch formulierte. Es war übrigens ein holpriger Start
seinerzeit. Nur 397 von 448 Abgeordneten der Koalition aus Union und
SPD wollten sich für sie entscheiden.
Der stern hat noch mal nachgeschaut: Was hat sie gemacht für ihr Land
an ihren Jubiläumstagen, die ja nichts anderes sind als kalendarische
Zufälle im ewigen Mahlstrom der politischen Zeitläufe?
Sie hat Deutschland gedient, das war, das ist ihre Devise. Sie hat sich ver-
ändert und ihr Land gleich mit. Kann man das erkennen? Man kann.


  1. AUGUST 2008


DER 1000. TAG


Der 17. August 2008 ist ein Sonntag. Sie ist in Tiflis, Geor-


giens Hauptstadt, die sie Tbilissi nennt. Merkel kommt


zum Sondieren, zum Schlichten. Als Weltstaatsfrau in


ihrer frühen Findungsphase. Ein heute fast vergessener


Blitzkrieg hat wenige Tage zuvor stattgefunden, russi-


sche Truppen sind auf georgischem Gebiet. Es ist die bis


dahin größte außenpolitische Krise ihrer Amtszeit. Hält


die Welt den Atem an? Das nicht. Es ist aber eines


dieser ungezählten Feuer auf der Erde, die besser zügig


ausgetreten sein wollen. Und sei es mit Trippelschrit-


ten. Die Spannungen sind zum Greifen. Merkel macht


Pendeldiplomatie. Georgien will in die Nato.


Sie hat in diesem Konflikt mit Wladimir Putin zu tun,

natürlich, der wird eine der ganz wenigen personellen


Konstanten der Merkel-Ära bleiben. Um sie herum wird


vieles wegbrechen in den kommenden Jahren. Innen


und außen. In den USA regiert noch George W. Bush. In


Frankreich Nicolas Sarkozy. Der hibbelige Franzose hält


sie, die unterkühlte Uckermärkerin, außenpolitisch für


zu unerfahren. Ganz unrecht hat er nicht, im August



  1. Es sind ja erst 1000 Tage.


TRIPPELSCHRITTE
IN TIFLIS
Merkel als
Schlichterin im
Streit zwischen
Georgien und
Russland. Vor ihr
läuft Georgiens
Präsident
Saakaschwili

ERSTER AMTSEID: Merkel endet mit „So wahr mir Gott helfe“.
Bundestagspräsident Norbert Lammert hält das Grundgesetz

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