Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1

Bis 2030 sogar sechs Millionen. Und sie benennt die He-


rausforderungen: Parkplätze, die mit Ladestationen für


Batterien verbunden sind, zum Beispiel. Oder Extrafahr-


spuren für Elektroautos; „die dafür notwendigen recht-


lichen Grundlagen müssen geschaffen werden“.


Extrafahrspuren für Elektroautos? Das ist auch so eine

Erkenntnis aus 5000 Tagen im Kanzleramt – nicht alles


ist stringent. Ständig gibt es Widerstände und Wider-


sprüche. Und manchmal macht man sich Gedanken, die


schlicht unnötig sind. Und was die Ziele angeht – da ist


oft eine Kluft, wenn man am Zieldatum angelangt ist.


Demnächst ist es so weit. Es sieht nicht gut aus. In


Deutschland fahren etwa 114 000 Elektroautos.


Dieser Samstag im Mai 2011 ist übrigens ihr einziger

Jubiläumstag, an dem sie mit ihrem vermeintlichen


Wunschpartner regieren kann. 1000 Tage zuvor hatte es


für Schwarz-Gelb nicht gereicht, 1000 Tage später wer-


den die Liberalen ganz tief in der Versenkung ver-


schwunden sein. Aber – es passt nicht zwischen Union


und FDP. Der Anfang ist schwach. Es wird nicht mehr


besser. Wer wollte, der hätte an diesem 2000. Tag den


Riss entsprechend deuten können. Das Umfrageinsti-


tut Forsa sieht in der „Sonntagsfrage“ die FDP bei vier


Prozent, die Union hängt bei mäßigen 31 fest.


Die Grünen sind da bei (heute nicht mehr) sensatio-

nellen 26 Prozent. Das hat einen Grund: Zwei Monate


zuvor ist der Reaktor in Fukushima havariert. Die


Nuklearkatastrophe im Hochtechnologieland Japan


führt zur radikalsten Wende, die Merkel je auf einem


Politikfeld vollzieht. Wenige Tage nach dem Unfall kippt


das Kabinett die erst ein knappes halbes Jahr zuvor


beschlossene Laufzeitverlängerung der Atomkraftwer-


ke. Merkel, die Physikerin, ist jetzt Atomkraftgegnerin.


Aus Kalkül. Sie beginnt, den Markenkern der Union zu


schreddern. Nicht alle sind überzeugt. Manche ballen


die Faust in der Tasche.


Man kann sagen: Die Metamorphose der Angela Mer-

kel hat begonnen – und die Partei muss mitmachen.


Nicht oft geschieht das mit Aplomb. Es ist: ein Prozess.


Sie steuert ihn. Es ist auch eine kontinuierliche, eine un-


aufhaltsame Absetzbewegung von der Partei des Hel-


mut Kohl.


Sie ist jetzt nur noch selten im Schatten des Alten. Am
Montagabend nach ihrem Jubiläumstag aber, dem 2002.
Tag, bleibt ihr nichts anderes übrig. Da steht sie im Zelt
der American Academy am Berliner Wannsee, Bill Clin-
ton ist auch da, und sie muss die Lobreden auf Kohl mit
einem Grußwort garnieren.
Kohl, der Geehrte, erwähnt sie an diesem Abend mit
keinem Wort.


  1. FEBRUAR 2014


DER 3000. TAG
Der 7. Februar 2014 ist ein Freitag. In Sotschi eröffnet
Putin die Olympischen Winterspiele, in Berlin präsen-
tiert Angela Merkel im Kanzleramt die neue Zwei-Euro-
Sondermünze. Das Geldstück – Auflage 30 Millionen –
zeigt die Michaeliskirche in Hildesheim. Seit 2006 gibt
es alljährlich eine Münze mit einem Motiv aus einem
der 16 Bundesländer, die Kanzlerin hat inzwischen Rou-
tine bei der Präsentation, und trotzdem enthält ihre
knapp dreiminütige Ansprache zwei klassische Merkel-
Sätze von funkelnder Schlichtheit.
„Diese Münzen spiegeln auf eine wunderschöne Art
und Weise den kulturellen Reichtum unseres Landes
wider“, lautet der erste dieser Sätze. Und der zweite: „In
diesem Jahr ist es also die neunte – wir haben noch ei-
nige vor uns, bevor alle Bundesländer durch sind.“
Merkel sagt solche Tante-Erna-Sätze frei von jeder
Ironie. Dann staunt sie für einen Moment die Münze
an, als handele es sich um die Blaue Mauritius, mindes-
tens. Als „unglaublich neugierig“ beschreibt Merkel sich
selbst. Sie entfaltet selbst bei solchen C-Terminen eine
Ernsthaftigkeit, als gäbe es gerade nichts Wichtigeres
auf der Welt, als wäre nicht eben – lange vor Donald
Trump – die US-Diplomatin Victoria Nuland mit einem
„Fuck the EU“ auf Europa losgegangen, als hätte nicht
tags zuvor Helmut Linssen als CDU-Schatzmeister zu-
rücktreten müssen, nachdem der stern über seine Brief-
kastenfirmen auf den Bahamas berichtet hatte.
Merkel haftet eine fast unzerstörbar scheinende Un-
erschütterlichkeit an. Im neunten Kanzlerinnenjahr an-
gelangt und von „Time“ als mächtige „Frau Europa“ ge-
adelt, hat sie sich, man darf das so sagen, eingewohnt in
ihrem Amt, das sie mit fröhlich-pragmatischer Routine
und einer gewissen stagnativen Emsigkeit ausfüllt. Wei-
ter, immer weiter, auch wenn es mal nicht recht vorangeht.
Zu wenig Muße, zu wenig Schlaf. Zu viele Flugmeilen,
zu viel Druck. Und abends gern noch ein Glas Roten.
Mit robuster Psyche und Physis gesegnet, steckt sie
das alles anscheinend locker weg. Sie wird 60 Jahre in
diesem Juli, und sie hat sich – darf man das so sagen?


  • auch äußerlich recht gut gehalten in dem Amt, das
    Joschka Fischer mal mit einem Achttausender vergli-
    chen hat. Dünne Luft. Extrem kräftezehrend. Ho-
    her Verschleiß. 2583 Tage hat ihr Vorgänger re-
    giert, und am Ende sah man jeden einzelnen
    davon in Schröders Gesicht gekerbt. Merkel
    braucht noch 61 Tage, bis sie amtszeitmä-
    ßig auch einen weiteren SPD-Kanzler
    überholt, Helmut Schmidt, mit dem sie
    ein Schicksal teilen wird: Auch mit ihm
    haderte die eigene Partei umso mehr, je
    länger er regierte. Aber das kann Mer-
    kel an diesem Tag, im Jahr vor dem
    Flüchtlingssommer, nicht ahnen.


KLATSCHEN FÜR KOHL
Merkel mit
Bill Clinton,
Henry Kissinger
und Academy-
Präsident
Norman Pearl-
stine (v. l.)
bei der Ehrung
für Altkanzler
Helmut Kohl.
Der erwähnt sie
mit keinem Wort

NUMISMATIKERIN
Merkel bei der
Präsentation
der Zwei-Euro-
Gedenkmünze
Niedersachsens.
Jedes Jahr
kommt ein
anderes Bundes-
land zum Zug

38 1.8.2019

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