Der Stern - 01.08.2019

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Axel Vornbäumen (l.) und Andreas Hoidn-
Borchers haben bisher – zusammen-
gerechnet – sechs Bundeskanzler beob-
achtet und beschrieben. Nach 5000 Tagen
Merkel könnten sie etwas Abwechslung vertragen FOTOS: MARTIN ROSE/GETTY IMAGES; MARKUS SCHREIBER/AP

zuvor – und dass sie ihre warmen Worte für Klinsmann


ehrlich meint. Es fallen einem andererseits auch nur


wenige Unionspolitiker ein, die Merkel in der Schluss-


kurve dieses Jahres 2016 derart preisen würden wie der


frühere Mittelstürmer: „Ich würde sie am liebsten mit-


nehmen, und sie wird neue US-Präsidentin“, sagt Klins-


mann abends in Erfurt. Zum neuen US-Präsidenten wird


dann fünf Tage später aber doch Donald Trump gewählt.


Wir kommen gleich noch darauf zurück.


Merkel kann eine nette Abwechslung gut gebrauchen

in diesen Tagen, Betonung auf nett. Sie läuft im perma-


nenten Katastrophenmodus. Außen wie innen. Außen:


Die Briten plagen sich gerade sehr mit dem Brexit,


Recep Tayyip Erdoğan hat Anfang der Woche angekün-


digt, die Todesstrafe wieder einzuführen, fast überall in


Europa sind rechte und populistische Kräfte im Auf-


wind. Innen: Findet sie keinen eigenen Kandidaten für


das Präsidentenamt. Hakt es mit dem Klimaschutzplan.


Vor allem aber kriegt sie die CSU nicht gebändigt mit


ihrem Drängen nach einer Obergrenze für Flüchtlinge.


Sie macht keine glückliche Figur. Es ist auch nicht viel

übrig geblieben von den 41,5 Prozent bei ihrem grandio-


sen Wahlsieg vor drei Jahren. 33 Prozent sind es noch in


der aktuellsten Umfrage. Die zur Anti-Flüchtlingspar-


tei radikalisierte AfD steht bei 13 Prozent. Merkel hat zu


Beginn des 4000. Tages die Zahlen in der Morgenlage,


der täglichen Besprechung mit den engsten Mitarbei-


tern im Kanzleramt, noch einmal vorgetragen bekom-


men. Dann hat sie sich mit Vertretern von Organisatio-


nen getroffen, die sich um Flüchtlinge kümmern. Es geht



  • „Guten Tag allerseits!“ – um Unterkünfte, Integration


und Sicherheit. Merkel fordert ihre Gäste auf, Probleme


zu schildern – „natürlich immer mit dem Ziel, sie auch


zu lösen“. Auch so eine klassische Merkel-Sentenz.


Wir schaffen das? Sie hält die Deutschen im Prinzip


für zu bräsig, zu ängstlich, zu erfolgsverwöhnt. Wegen


ihrer Veränderungsresistenz nicht besonders überle-


bensfähig in einer globalisierten, digitalisierten


Zukunft. Sie klagt immer wieder darüber, seit Jahren.


Dabei hat sie dieses Land, wie auch nicht?, durchaus ver-


ändert in ihren nunmehr elf Jahren als Kanzlerin.


Selten klinsmannesk draufgängerisch, meist in ihren


Trippelschritten merkelig unmerklich.


Sie glaubte über die Deutschen und sich: Sie kennen

mich – ich kenne sie. Sie täuschte sich. Mit ihrer Ent-


scheidung im Jahr zuvor, Hunderttausende Flüchtlin-


ge ins Land zu lassen, hat sie einen Teil der Deutschen


doch stärker überfordert, als sie dachte.


Plötzlich spaltet die einstige Konsensfrau die Nation.

52 Prozent finden ihre Arbeit gut – 48 Prozent nicht.


Noch hat sie sich nicht entschieden, ob sie bei der


Wahl im kommenden Jahr noch einmal antreten wird,


um auch – aber in diesen Kategorien denkt sie allen-


falls in sehr schwachen Momenten – noch die 5000


vollzumachen. Es gibt nicht wenige in der Union, die


heilfroh wären, wenn die Kanzlerin, ganz profan ge-


sagt, allmählich die Schnauze voll hätte von der Fron


und dem ganzen Rest. Von Seehofer zum Beispiel, der


sie zum ersten Mal nicht zum CSU-Parteitag eingela-


den hat an diesem Wochenende. Das wäre „ein grober


politischer Fehler“ gewesen, ihren Dissens auf offener


Bühne auszutragen, wird Seehofer in seiner Rede


sagen. Im Jahr zuvor hatte er die Kanzlerin eine halbe


Ewigkeit neben sich ausharren lassen wie eine ausran-


gierte Stehlampe.


Sie hätte genug Gründe, es gut sein zu lassen. Trotz-
dem kündigt sie wenige Tage nach der US-Wahl an, im
nächsten Jahr wieder zu kandidieren. Sie glaubt, sie wer-
de noch gebraucht mit all ihrer Erfahrung – die Welt
könne nicht den Trumps überlassen werden.
Das glauben, verkehrte Welt, längst vor allem ihre
politischen Gegner. In ihrer Pressemappe findet Mer-
kel an ihrem 4000. Tag im Amt einen Satz, den Winfried
Kretschmann am Abend zuvor über sie gesagt hat: „Ich
wüsste auch niemand, der diesen Job besser machen
könnte als sie.“
Der Kicker Klinsmann und der Grüne Kretschmann


  • das ist Merkels verlässlichste Fan-Basis. Das Beste ist
    längst vorbei, das Schlimmste noch nicht. Das kommt
    erst nach der Wahl im September 2017. Hängen und Wür-
    gen, bis die Regierung steht – und danach erst recht. Um
    Kanzlerin bleiben zu können, gibt Merkel am Ende den
    CDU-Vorsitz ab. Bergsteiger wissen das: Der Abstieg
    vom Achttausender ist oft schwieriger als der Aufstieg.


PS
Am Mittwoch war ihr 5000. Tag. Sie ist im Urlaub, aber
erreichbar, „wenn was ist“. Das war sie immer, jeden
verdammten Tag, von ganz wenigen Stunden in den
Bergen Südtirols mal abgesehen.
Sie hat das Land verändert, sie hat sich verändert. Die
Macht, der Stress, die Verantwortung, das Alleinsein
ganz oben, das alles hat dann doch Spuren hinterlassen,
in letzter Zeit bisweilen so, dass man sich Sorgen um
ihre Gesundheit machen muss, auch wenn sie selbst
sagt, ihr gehe es gut. Sie sagt es in ihren Worten – es sei
„wichtig, dass ich mich zu der Verantwortung bekenne,
handlungsfähig zu sein“.
Das ist sie geblieben. Nicht immer in der Koalition,
die sie sich gewünscht hat. Die Grünen haben noch
gefehlt in ihrer Sammlung, sie hätte auch Jamaika
genommen. Es sollte nicht sein.
Sie ist jetzt im Klub der 5000er. Ein überschaubarer
Kreis. Noch 143 Tage, dann hat sie Adenauer eingeholt,
drei Tage vor Heiligabend. Das wird ihr keiner mehr neh-
men können. Nicht einmal die SPD. 2

WEITER, IMMER WEITER
Merkel im Juli
2019 kurz vor der
Eröffnung der
James-Simon-
Galerie in Berlin

FAN-GEMEINSCHAFT
Merkel mit
Ex-Bundes-
trainer Jürgen
Klinsmann,
der sie gern
als US-Präsiden-
tin sähe

40 1.8.2019

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