Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1
Millionen
Hausgärten und
eine Million
Schrebergärten
werden, grob
geschätzt, in
Deutschland
geharkt, gegos-
sen, gehegt

20


D


ie Waffen von Tier und
Pflanze und Mensch sind in
diesem Berliner Garten, so
scheint es, einigermaßen
gerecht verteilt. Helga Pick-
Fuß, 63 Jahre alt, gesegnet
mit grünem Daumen, führt gerade
durch ihre 240 Quadratmeter große
Parzelle in der Schreberkolonie am
Westkreuz. Alte Zypressen spenden
Schatten, am Goldlack summen Bie-
nen, es blühen Rittersporn, Klatsch-
mohn, Lupinen, Anemonen – aber
da, an den Rosen, sitzt eine Rosen-
blattrollwespe. Frau Pick-Fuß sieht
sie, tritt nahe heran – und pflückt
die befallenen Blätter einfach ab.
Nein, diese Gärtnerin ist keine
Mörderin. Sie setzt am liebsten auf
die vielfältigen Kräfte der Natur.
Spatzen sind ihr Frühwarnsystem
für Läusebefall – wenn die Vögel
kommen und picken, weiß sie, die
Läuse sind da, und spritzt abends
Wasser auf die Kolonien. Um die
jungen Dahlien gegen Nacktschne-
cken zu schützen, stülpt sie Glas-
glocken ausrangierter Gaslampen
über die Pflänzchen. Werden es

doch zu viele, sammelt sie die
Tiere ein, ersäuft sie in billigem
Rotwein – und nur wenn gar nichts
mehr hilft, streut sie Chemie: „Ein
ganz klein wenig und ganz, ganz
vorsichtig Schneckenkorn“. Helga
Pick-Fuß fällt allein das Geständ-
nis schwer. „Danach“, sagt sie, „ja,
danach habe ich ein richtig schlech-
tes Gewissen.“
Nicht alle ticken wie diese Berli-
nerin. Im Gegenteil, der deutsche
Hobbygärtner ist ein eher rätselhaf-
tes Wesen. Er liebt seine Pflanzen,
freut sich an Schmetterlingen,
Käfern, Grillen – und vergiftet sie
am Ende doch. Weil er „Fipronil“ in
die Gießkanne füllt und mit einem
Schwapp ganze Ameisenvölker aus-
löscht. Weil er „Bi 58“ auf die Rosen
spritzt und damit jedes Krabbeltier
vernichtet. An seinem Gartenhaus
hängt ein Insektenhotel – und drin-
nen lagern Fungizide, Herbizide,
Insektizide, Biozide. Der Mörder ist
immer: der Gärtner.
In Deutschland werden, grob ge-
schätzt, 20 Millionen Hausgärten
und eine Million Schrebergärten

gehegt, etwa 930 000 Hektar. Auf
diesem Gebiet, zehnmal so groß wie
Berlin, werden pro Jahr 6220 Tonnen
sogenannter Pflanzenschutzmit-
tel eingesetzt, pro Hektar rund 6,7
Kilogramm. Auf einem landwirt-
schaftlich genutzten Hektar sind es
5,2 Kilo. Der konventionell wirt-
schaftende Bauer ist also weniger
spritzwütig als der Gartenfreund.
Seit 2012 stieg der Absatz der chemi-
schen Mittel um 1675 Tonnen. Nach
Angaben des Industrieverbands
Agrar gaben die deutschen Gärtner
2018 mehr als 60 Millionen Euro aus
für Kampfstoffe gegen Schnecken,
Apfelwickler, Kirschessigfliege,
Sternrußtau oder Sackschildläuse.

Was darf’s denn sein?


Samstagmorgen in Słubice, Polen.
Auf dem Parkplatz vor dem Garten-
center Agrogobex stehen Autos aus
Berlin, Dresden, Brandenburg, Bar-
nim, Märkisch-Oderland. Männer
in Kurzarmhemden und Frauen in
bunten Sommerkleidern schlen-
dern durch das Außengelände und
schauen sich die Pflanzen an, die in

Spatzen, Wein und Handarbeit: Helga Pick-Fuß pflückt befallene Blätter
einfach ab. Die Berlinerin vertraut auf die Mittel der Natur


EIN GARTEN


BRAUCHT ZEIT


UND LIEBE –


KEIN GIFT


44 1.8.2019
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