Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1
Quadratmeter
misst ein deut-
scher Kleingarten
im Schnitt. Wer
in Berlin eine Par-
zelle haben will,
muss bis zu fünf
Jahren warten

370


Löwenzahn und jedes Gänseblüm-
chen zu killen. Ein giftgrünes Plakat
wirbt für „Bi 58“. Das Kürzel steht für
„Bitterfeld 58“. Das Produkt enthält
Dimethoat in hoher Konzentration,
ein Nervengift für Insekten und Säu-
getiere. Auch für Menschen ist es
gefährlich. In Frankreich wurde Di-
methoat 2016 verboten. In Deutsch-
land sind die Zulassungen für eine
Vielzahl von Dimethoat-Produkten
Ende Juli ausgelaufen. Die Verwen-
dung ist nun verboten.
Fragt der Kunde an Stand L15 nach
„noch stärkerem Insektengift“, greift
der Verkäufer unter den Ladentisch
und stellt eine Ein-Liter-Flasche
Chlorpyrifos auf den Tresen. Das
Fraß-, Kontakt- und Atemgift steht
im Verdacht, die Gehirnentwicklung
beim Menschen, insbesondere bei
Ungeborenen, zu schädigen. Die Fol-
gen: Aufmerksamkeitsstörungen
oder verminderte Intelligenz. Das
Gift ist in Deutschland seit 2008
verboten. Der Verkäufer zwinkert
und sagt: „Wirkt! Glaube mir.“
Es geht zurück nach Berlin. Seit
einigen Wochen werden hier, in der
Hauptstadt der Schrebergärtner, für
einen stern-Test Insektengifte und

Unkrautvernichtungsmittel in Bau-
und Pflanzenmärkten eingekauft,
darunter Bauhaus, Hornbach, Obi,
Globus und Hellweg. Begleitet wer-
den die Recherchen von der Aurelia
Stiftung, die sich für den Schutz von
Wild- und Honigbienen einsetzt.
Jan Hellberg, 40, Biologe bei der Stif-
tung, schildert dem Verkaufsper-
sonal typische Probleme – Spinn-
milben, Läuse, Moos – und lässt sich
dann beraten.
An diesem Morgen besucht Hell-
berg das beliebte Berliner Garten-
center „Der Holländer“, Werbeslogan:
„Vorbeugen – stärken – schützen –
heilen“. Zur Beratung soll der Garten-
freund befallene Blätter und ein-
gefangene Schädlinge mitbringen.
Der Pflanzendoktor im Laden er-
stellt dann die Diagnose und schlägt
die richtige Behandlung vor, „anstatt
Unmengen für Unkrautvernichter
auszugeben“. So das Versprechen.
Hellberg bringt heute Spinnmil-
ben und Blattläuse mit. Leider ist
der Pflanzendoktor gerade nicht da.
Der Giftschrank steht dennoch of-
fen, und im Einkaufswagen landen
Loxiran S, Spruzit und Careo Schäd-
lingsfrei. Niemand fragt, warum

man so viel Gift kauft, dass man
bequem alles Leben eines Klein-
gartens ausrotten könnte.
Wenig später trifft die Pflanzen-
doktorin dann doch noch ein und
wird mit dem erstaunlichen Ein-
kaufserlebnis konfrontiert. Sie sagt:
„Ja, Fehler. Der Schrank muss ab-
geschlossen sein.“
Ob sie denn jetzt Biomittel gegen
Spinnmilben empfehlen könne?
„Das Einzige, was ich Ihnen geben
kann, sind Pflanzenschutzmittel.
Alles andere wäre unlogisch. Wie
wollen Sie sonst Spinnmilben weg-
bekommen?“
Mit Seifenwasser?
„Verschmutzt das Grundwasser.“
Aber Insektizide sind gefährlich!
„Ja, aber die wirken.“
Die befallenen Blätter abreißen?
„So viel Zeit haben Sie doch gar
nicht. Hat kein Mensch heute!“
Leider unterscheidet sich die Er-
fahrung beim „Holländer“ kaum
von jener in anderen Märkten: Als
erste Wahl wird immer ein nicht-
biologisches Mittel angeboten. Nie
wird gefragt, wie stark der Befall ist.
Nie wird ein biologisches Mittel
empfohlen. Nie wird geraten, beim

Retter der Bienen: Biologe Jan Hellberg von der Aurelia
Stiftung hat die Testkäufe des stern begleitet


Kein Pestizid, kein Insektizid: Gartengestalter Rainer Kaufmann
freut sich jeden Tag an seinem gesunden Gemüse

GRÜNE VIELFALT


UND GANZ


VIEL GELASSENHEIT


46 1.8.2019

Free download pdf