Der Stern - 01.08.2019

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FOTOS: THOMAS KIENZLE/AFP; PATRICK SEEGER/DPA

D


ie junge Frau, um die sich
alles dreht, ist nicht im Ge-
richtssaal erschienen. Ihre
Aussage macht sie laut
Richter Stefan Bürgelin „an
einem anderen Ort“.
Sabrina Wilke*, 19, Azubi zur Al-
tenpflegerin, sei traumatisiert, er-
klärte der psychiatrische Gutachter.
Seit der Tat leide sie unter Angst-
zuständen und Albträumen, meide
Gruppen. Eine Vernehmung vor vie-
len Prozessbeteiligten könnte ihren
Zustand verschlimmern. Mehr als
sechs Stunden lang schildert die
Zeugin deshalb unter Ausschluss
der Öffentlichkeit per Videoüber-
tragung, wie sie die Nacht zum 14.
Oktober 2018 erlebt hat, nachdem
sie mit dem Hauptangeklagten
Majd H. einen Technoklub in Frei-
burg verlassen hatte.
Die Tat hatte schon deshalb Auf-
sehen erregt, weil zehn der elf An-
geklagten Asylbewerber sind, acht
davon aus Syrien, fast alle polizei-
bekannt.
Laut Anklage soll einer von ihnen
der jungen Frau und ihrer Freundin
im Technoklub zwei Ecstasy-Tab-
letten verkauft haben. In einem
spendierten Drink habe Majd H. der
damals 18-Jährigen vermutlich zu-
sätzlich K.o.-Tropfen verabreicht.
Danach gingen sie in ein nahes Wäld-
chen, wo er ihr ein Tattoo auf seinem
Oberschenkel habe zeigen wollen.
Dort habe er Wilke vergewaltigt und
anschließend Bekannte zu der wehr-
los am Boden liegenden Frau geführt,
die sich ebenfalls an ihr vergangen
haben sollen.
Neun von ihnen schweigen. Zwei
bestreiten die Tat. Der Sex sei „ein-
vernehmlich“, gar massiv „gefordert“
gewesen.
Der Fall zeigt, wie schwierig bei
Sexualstraftaten der Nachweis eines
Verbrechens ist. Erst recht, wenn
Drogen im Spiel sind und das Opfer
Erinnerungslücken hat. Und er zeigt,
was es für das Opfer bedeuten kann,
wenn die Verteidiger mit allen Mit-
teln eine Verurteilung ihrer Man-
danten verhindern wollen.
Das Freiburger Schwurgericht
muss sich durch 78 Leitzordner
durcharbeiten, jeder 500 Seiten dick,

es muss Spuren am Opfer, Whats App-
Chats der Angeklagten und Anruf-
protokolle bewerten, fünf Sachver-
ständige hören und rund 50 Zeugen
befragen. Es ist auf Spuren vor Ort
angewiesen und auf die Aussagen
von Sabrina Wilke. Doch deren Erin-
nerungen beschreibt Staatsanwalt
Rainer Schmid als bruchstückhaft,
wie „Traumsequenzen“.
Es ist die zentrale Frage des Ver-
fahrens: In welchem Zustand war
sie? War sie erkennbar wehrlos? Und
in welchem Zustand waren die An-
geklagten, die ebenfalls Alkohol und
Drogen konsumiert haben sollen?
Sie habe, so schilderte es Wilke der
Polizei, zunehmend die Kontrolle
über ihren Körper verloren, habe
sich nicht mehr bewegen, nicht
schreien können. Die Männer hät-
ten ihren Kopf festgehalten und sie
vaginal und oral vergewaltigt. Sie
habe „gewimmert“ und „verneinen-

de Laute“ von sich gegeben. Fotos
der jungen Frau, die Rechtsmedizi-
ner am nächsten Tag aufnahmen,
zeigen Verletzungen, die zu ihrer
Darstellung passen: mehrere Häma-
tome und ein Bluterguss am Ober-
arm, laut einer Rechtsmedizinerin
ein typischer „Festhaltegriff“. Ihre
Fingernägel waren abgebrochen.
Demnach habe sie ihre Angreifer ge-
kratzt. Bei einigen Angeklagten
wurden Kratzwunden und andere
Spuren der Gegenwehr dokumen-
tiert. Nach Auslegung einer Vertei-
digerin am Rande des Prozesses
möglicherweise aber auch „Spuren
der Enthemmung“.
Der Anklage zufolge sollen die
Männer erkannt haben, dass die Frau
unter Drogen stand, und ihre Wehr-
losigkeit ausgenutzt haben. Timo P.,
einziger Deutscher unter den Ange-
klagten und der Einzige, der aus-
führlich ausgesagt hat, gibt zu, dass

Im Prozess um die Freiburger Gruppenvergewaltigung


ist die Wahrheitsfindung schwierig – und verletzend


Von Isabel Stettin


ABER SIE HAT ES DOCH


SO GEWOLLT!


* Name von der Redaktion geändert

50 1.8.2019

GESELLSCHAFT

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