Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1
25 km

EUROPA

AFRIKA

25 km

EUREUROPAU

AFRIKAKAKK

ÄGYPTEN


ISRAEL


Gaza


Rafah

Gaza-
Stadt

seine Flügel ausstrecken kann. Der
Besitzer des Zoos sei nicht bösartig,
sagt Khalil, aber es fehle an Geld für
große Käfige, an Futter und Medizin.
Gut und Böse sind für Khalil sowie-
so schwierige Begriffe.
Jedenfalls beschloss er, die Tiere
zu retten. Mehrere Monate hat er
Verhandlungen geführt. Mit dem
Zoodirektor. Der Hamas. Mit Israel.
Er hat sich um Papiere und den
Transport gekümmert. Jetzt steht
er kurz vor der größten Rettungs-
aktion seiner Karriere.

Z


wei Wochen vor dem Tag im
Zoo, an dem ihn ein Affe mit
Betäubungspfeilen bewerfen
wird, läuft Amir Khalil am
Flughafen in Wien zum Gate.
Er trägt eine Jeansjacke und
einen Koffer mit einem Betäubungs-
gewehr. Neben ihm steht seine Assis-
tentin Marion Lombard. Sie kommt
aus Frankreich und arbeitet seit Sep-
tember für Khalil. Seitdem sagen die
Leute oft zu ihr: „Viel Glück!“
„Was haben Sie denn vor?“, fragt
die Dame von der Fluggesellschaft
Dr. Khalil jetzt am Schalter und
schaut misstrauisch auf die ganzen
Kisten, Medikamentenkoffer und
Käfige, die er und seine Assistentin
dabeihaben.
„Wir sind eine internationale
Tierschutzorganisation und werden
Tiere aus einem Zoo im Gazastrei-
fen retten“, antwortet Dr. Khalil.
„Was für Tiere?“, fragt die Dame
und zieht die Augenbrauen hoch.
„Fünf Löwen, vier Affen, zwei
Wölfe, eine Hyäne ...“
Die Dame fängt an zu lachen.
„Sollen wir Ihnen einen Affen
mitbringen?“, scherzt Dr. Khalil.
Marion Lombard sagt: „Die Leu-
te halten uns oft für Verrückte.“
Amir Khalil: „Wir sind auch ver-
rückt.“
Marion Lombard: „Ich nicht.“
Dr. Khalil: „Noch nicht.“
Er weiß, dass es zynisch wirken
kann, was er macht. Tiere aus Krisen-
zonen retten, während Menschen
sterben. Aber für ihn hängt alles
zusammen, die Tiere, die Menschen.
Er sagt: „Tiere können Menschen
zu Menschlichkeit erziehen.“ Beson- 4

ders im Krieg. Wo Menschlichkeit
doch eigentlich immer verloren geht.
Laut Dr. Khalil hat die Organisa-
tion keine politischen Absichten,
und dennoch braucht sie die Politik
wie ein Pilz den Waldboden. Wäh-
rend der Reise wird man verstehen,
wie Dr. Khalil, dieser Mann mit dem
dicken Bauch und dem großen Herz,
es schafft, Politiker für sich zu ge-
winnen.
Als Dr. Khalil noch ein Kind war,
schaute er am liebsten die ameri-
kanische Fernsehserie „Daktari“
mit dem Tierarzt Dr. Marsh Tracy.
Er schaute Dr. Tracy dabei zu, wie
der Löwenbabys untersuchte,
und träumte sich zu ihm auf die
Wildtierstation nach Afrika – ins
Abenteuer.
Mittlerweile hat Dr. Khalil Lei-
chen gesehen, wurde mit dem Tode
bedroht, geriet unter Beschuss. Bei
einem Einsatz in Mossul explodier-
te eine Autobombe nur wenige
Meter von ihm entfernt. Dennoch
behauptet er: „Lebensmüde bin ich

eines österreichischen Beisls. Unter
den Mitarbeitern gibt es einen Witz
zum Gründungsmythos, der so
geht: „Der Name Vier Pfoten kommt
bestimmt daher, weil unser Chef
immer auf allen vieren aus der
Kneipe gekrochen ist.“
Seine erste Reise als Tierarzt führ-
te Dr. Khalil vor 25 Jahren auf den
Balkan. Später rettete er Bären in
Bulgarien mit Brigitte Bardot, aber
ihm wurde schnell klar, dass es die
Krisen und Konflikte sind, die ihn
wirklich interessieren.
Jetzt also Gaza, aber erst einmal
treffen sich alle in einem Hotel in
Jordanien. Auch ein Filmteam des
chinesischen Künstlers Ai Weiwei
reist wenig später an, für eine Net-
flix-Dokumentation. Mediale Auf-
merksamkeit ist wichtig, sie bringt
Spenden, auf die die Organisation
angewiesen ist. Die Rettungsaktion
in Gaza ist nicht nur die bisher größ-
te, sondern auch die teuerste.
Im Bus auf dem Weg zur Grenze
zu Gaza erreicht Khalil die Nach-
richt, dass am frühen Morgen in der
Ortschaft Mischmeret, nordöstlich
von Tel Aviv, ein Haus von einer
Rakete getroffen wurde. Die Rakete
wurde aus dem Gazastreifen ab-
gefeuert. Sieben Menschen wurden
bei dem Angriff verletzt, unter ih-
nen auch Kinder – und ein Baby.
Dr. Khalil atmet schwer. Genau
das kann er jetzt nicht gebrauchen.
Er weiß: Bei Luftangriffen kann
es dazu kommen, dass Grenzüber-
gänge zwischen Israel und Gaza ge-
schlossen werden. Nun kann er nur
abwarten. Noch bevor sie Jordanien
verlassen haben, muss er seinem
Team sagen: „Die Grenze zu Gaza ist
geschlossen. Wir werden heute
nicht einreisen können.“
Dr. Khalil geht raus und steckt sich
eine Zigarette an. Er weiß: Je heißer
der Konflikt, desto weniger interes-
siert sich jemand für seine Mission.
Dann rücken die Tiere wieder an die
letzte Stelle. Und er weiß auch: Jeder
Tag, der ihnen verloren geht, kostet
viel Geld. Für heute ist die Mission
jedenfalls beendet. Sie fahren zurück
in das Hotel in Jordanien.
Abends treffen sich alle im Zim-
mer 210. An der jordanischen

nicht.“ Dr. Khalil trägt keine Schutz-
weste während seiner Missionen.
Stattdessen hat er ein Stoffshirt an
mit einem Wiesel, dem Wappen-
zeichen seiner NGO.
Amir Khalil wurde vor 54 Jahren
im Fayyum-Becken in Ägypten ge-
boren und studierte in Kairo Vete-
rinärmedizin. Die Tierschutzorga-
nisation Vier Pfoten wurde 1988 in
Wien von Heli Dungler gegründet.
Die Idee entstand dort, wo wirklich
große Ideen entstehen: am Tresen

Ein Kind sitzt
auf einem
mumifizierten
Löwen, er
wurde bei
einem Raketen-
angriff getötet

ALS DR. KHALIL NOCH EIN KIND WAR, SCHAUTE ER AM LIEBSTEN DIE AMERIKANISCHE


FERNSEHSERIE „DAKTARI“. UND TRÄUMTE SICH ZU DR. TRACY NACH AFRIKA – INS ABENTEUER


58 1.8.2019
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