Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1
Nora Gantenbrink (l.)
hatte in Gaza am
meisten Angst um
Corinna Kern.
Die fotografierte auch dann noch, als
ein Löwe aus dem Gehege entwischte

Betäubungspfeil entgegen, Dr. Kha-
lil treibt es den Schweiß auf die Stirn.
Als wüssten die Tiere, dass irgend-
etwas anders ist, bäumen sie sich
plötzlich mit aller Macht gegen die
fremden Retter auf. Der komplette
Zoo dreht durch. Ein paar Halbwüch-
sige versuchen, die Pelikane einzu-
fangen, aber einer entkommt und
rennt flügelschlagend davon.
Überhaupt: Aus jedem Gehege
schreit, brüllt, miaut, fiept und flat-
tert es. Eine junge Löwin springt vor
Panik auf das Dach ihres Käfigs. Der
Zoobesitzer fängt sie mit einem
Netz ein. Die anderen jungen Löwen
sollen mit toten Hühnern in die
Käfige gelockt werden. Aber auch
das klappt nicht. Also ziehen die
Retter ihnen Plastiktüten über
den Kopf, was die Löwen nur noch
wütender zu machen scheint.

D


ie Affen sind endlich einge-
schlafen und in ihren Bo-
xen. Dr. Khalil trägt einen
betäubten Wolf in einen Kä-
fig. Der Bruder des Zoodi-
rektors zieht seinen rechten
Schlappen aus und schlägt auf einen
der Helfer ein, warum auch immer.
Überall wird geschrien, mal auf
Englisch, meistens auf Arabisch,
Katzen entkommen, und bei dem
Versuch, eine Affenfamilie in die
Käfige zu stecken, entwischt der
Babyaffe. Der Zoodirektor weigert
sich, den Tierschützern acht Hunde-
welpen auszuliefern, weil er sagt,
in seinem Vertrag mit der NGO ste-
hen die Welpen nicht mit drin, also

gehörten sie ihm. Es kommt zum
Streit. Dr. Khalil vermittelt und be-
ruhigt. Die Mutter der Hundebabys
knurrt. Am Ende wird sie ohne ihre
Kinder weggebracht.
Als fast alle Tiere endlich in
den Käfigen sind, ist auch noch die
Schule aus, und Hunderte lärmende
Schulkinder strömen zum Eingang
des Zoos, zu dem großen Lastwagen,
auf den die Tiere geladen werden
sollen. Es wird immer lauter und
aufgeregter. Einmal kippt ein Strau-
ßenkäfig fast vom Lastwagen, weil
einer der Helfer ihn nicht mehr
halten kann. Dr. Khalil steht um-
ringt von Hunderten Menschen
auf der Hebebühne und dirigiert die
Käfige, die an einem Haken bedroh-
lich hin- und herschwenken.
Der Zoodirektor hat sich in sein
Haus geschlichen und schaut dem
Treiben vom Balkon zu. Durch das
Geschäft mit der Tierschutzorga-
nisation, die ihm die Tiere abgekauft
hat, hat er gutes Geld verdient. Aber
während die Käfige verladen werden,
läuft ihm eine Träne über die Wange.
„Warum nehmt ihr uns die Tiere
weg?“, fragt ein kleines Schulmäd-
chen Dr. Khalil auf Arabisch. „Wir
nehmen sie nicht weg, sie bekom-
men nur ein besseres Zuhause“, ant-
wortet er. Einer der lokalen Helfer
sagt: „Die Tiere dürfen das, wovon
wir träumen: ausreisen.“ Für einen
kurzen Moment spürt man Traurig-
keit zwischen all den Tieren und
dem Trubel, den die Fremden verur-
sacht haben, auch wenn diese
eigentlich nur Gutes wollten.

Als der letzte Käfig aufgeladen ist,
schließt der Bruder des Zoodirektors
das Tor. Der Truck startet den Mo-
tor, das Team von Dr. Khalil flüchtet
sich in die Minivans. Der Zoo Rafah
ist Geschichte. Mit dem Geld von
Vier Pfoten möchte der Zoobesitzer
auf dem Platz ein Café eröffnen.
Am nächsten Tag gibt die Orga-
nisation eine Pressemitteilung he-
raus: „Vier Pfoten hat seinen bisher
größten Coup geschafft.“ Das Team
habe 47 Zootiere aus dem Gazastrei-
fen evakuiert.
Fast alle Tiere haben den Trans-
port gut überstanden. Die zwei
Hunde aus dem Zoo in Gaza werden
bald nach Deutschland überführt.
Der Künstler Ai Weiwei wird sie bei
sich zu Hause in Berlin aufneh-
men. Die zwei älteren Löwen sind
auf dem Weg nach Südafrika. Die
drei jungen wurden vor den Augen
von Prinzessin Alia, der Halb-
schwester von König Abdullah, in
ein riesiges Schutzzentrum in
Jordanien gebracht.
Es dauerte allerdings ziemlich
lange, bis die Löwen sich trauten,
ihre Käfige zu verlassen. Vielleicht
ging es ihnen wie Häftlingen nach
einer langen Zeit im Gefängnis,
auch sie müssen die Freiheit oft erst
wieder lernen. Den Löwen, so schien
es, machte sie zunächst erst einmal
Angst. Die Pelikane gewöhnten
sich schneller dran. Sie wurden am
Toten Meer entlassen und flogen
sofort der Sonne entgegen.
Und wer ist nun Dr. Khalil? Ein
Held, ein Träumer, ein Tierfreak, ein
Getriebener? Vielleicht ist er alles,
und vielleicht ist es egal. Denn am
Ende dieser Geschichte betraten
fünf Löwen zum ersten Mal ein
Stück Gras.
Wenn man Dr. Khalil fragt, ob
er ein schlechtes Gewissen habe
wegen der Menschen, die den Zoo
nun nicht mehr besuchen können,
dann sagt er: „Ja.“ 2

Links: wütender
Pavian mit
Betäubungspfeil.
Rechts: Nach
der Aufregung
raucht Dr. Khalil.
An manchen
Tagen raucht er
vier Schachteln

WER IST NUN DR. KHALIL? EIN HELD? EIN TRÄUMER? EIN TIERFREAK? EIN GETRIEBENER?


VIELLEICHT IST ER ALLES, UND VIELLEICHT IST ES EGAL


62 1.8.2019
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