Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1
Ulrike Posche wollte kein Jahr
auf ein Interview mit Currentzis
warten. Die Zeit hatte sie nicht.
Sie ist ihm nachgereist. Wie all
die anderen Frauen FOTO: M. SIEBINGER/BRAUERPHOTOS

Haare, schöne Tattoos. Und die „Bru-
derschaft“ gehört dazu: Konzert-
meister, Solisten, Musiker, Chorsän-
ger. Currentzis ist täglich umbraust
von begabten Menschen und Klän-
gen, und doch ist da stets ein Hauch
von Düsternis und Trauer. Vielleicht
bestäubt er sich deshalb mit „Shali-
mar“, „Opium“ und Selbstgebrautem,
um den Duft des einsamen Genies zu
vertreiben.
Als Teodoros Kurentzis wird er
1972 in Athen geboren. Die Mutter
führt eine kleine Musikschule in der
Wohnung. Es gibt einen jüngeren
Bruder. Der Vater – nobody knows.
Jedenfalls ist von ihm nie die Rede.
Mit fünf spielt er Klavier, mit zwölf
nimmt er am Athener Konserva-
torium Geigen- und Gesangsunter-
richt. Mit 15 lernt er zu dirigieren.
„Ich hatte alles, um ein braver Jun-
ge zu sein“, erzählt er dem Filme-
macher Christian Berger 2016 für die
preisgekrönte Dokumentation „Der
Klassikrebell“, „aber irgendwie bin
ich zu klug dafür oder zu stur oder
ein Blödmann.“ Mit 22 Jahren schafft
er die Aufnahme in die Dirigierschu-
le des Großmeisters Ilja Musin und
zieht nach St. Petersburg. Dort lernt
er seine späteren Mitstreiter ken-
nen, Musiker, Sänger. Sie wollen das
Musiktheater revolutionieren. Sie
teilen eine WG. Er ist schon damals
ein Exzentriker, ein Anfeuerer. „Wir
hatten wenig zu essen“, erzählt Teo,
„aber wir hatten immer bordeaux-
farbene Kerzen und teure Parfüms.“
Dann kommt 2004 das erste Joban-
gebot: Chefdirigent am Akademi-
schen Opern- und Ballett-Theater
von – jetzt kommtʼs: Nowosibirsk!
Wer geht freiwillig nach Sibirien?
Junge Talente natürlich! Er findet
sie an den Hochschulen des Landes.
„Partisanen“, sagt er, „kannst du
nicht in der Hauptstadt sammeln.
Die findest du in den Wäldern.“ Er

gründet das „MusicAeterna Ensem-
ble“, sein Orchester. Im Jahr 2011
gelingt ihm dann der Sprung nach
Perm, er wird Musikdirektor des ei-
nigermaßen berühmten Opern- und
Ballett-Theaters am Fluss Kama.
Das Orchester folgt ihm samt Chor.
Schnell spricht sich herum, welcher
Faun hier des Nachts sein Publikum
verführt, noch schneller folgen
Einladungen aus aller Welt, Aus-
zeichnungen, Preise, Ruhm. Auch für
Perm. Dennoch nimmt das Genöle
der Stadtoberen nicht ab: „Current-
zis ist sein Geld nicht wert.“ Sein
Publikum sieht es anders.
Gleich bei der Eröffnung des Mu-
sikfestivals im Mai kreischt eine
Frau aus dem Publikum: „Erlaubt
Currentzis nicht, zu gehen!“ Schnell
drucken die Pop-up-Läden vor der
Konzerthalle den Wunsch in roter
Schnürsenkel-Schrift auf schwarze
T-Shirts; 2000 Rubel, 28 Euro. Doch
Heidi und die anderen Aficionados,
die nach dem allerletzten Konzert
vor dem hell erleuchteten Fenster
der Fabrik warten, hinter dem er mit
einem Drink in der Hand saß, wäh-
rend ihm eine blonde Lockenfrau
den Nacken massierte – sie ahnten
bang, dass der Maestro wohl nicht
mehr lange bleiben würde. Zu un-
gemütlich war die Arbeit hier ge-
worden, zu knapp das Geld. Eine
Musikkritikerin tippte, er gehe nach
St. Petersburg. Doch die Politik der
Russen rollt der Kunst derzeit nir-
gends einen roten Teppich aus, nicht
einmal ihrem Star. Es waren also die
letzten Nächte des Fauns in Perm.
Seit einem knappen Jahr leitet
Currentzis als Chefdirigent nun auch
das frisch fusionierte SWR-Sympho-
nieorchester – zwei in betulichen
Trott gekommene Kapellen aus Frei-
burg und Stuttgart. „Warum denn
ausgerechnet Stuttgart?“, barmten
seine Agenten und Anhänger. „Reizt
mich eben“, sagte er. In Stuttgart
könne er aus zwei Truppen eine neue
formen. Deshalb turnt und tanzt er
seine Konzerte eben neuerdings auch
in der „Liederhalle“, die trotz Teakver-
täfelung und Sichtbeton nun wirk-
lich kein Prachtbau ist.
Ja, tanzt! Wenn es ihn überkommt,
schüttelt er sich wie ein Steiner-
Schüler auf der Abiturparty, dreht
sich wie ein Gavotte-Jüngling bei
Hofe oder springt stampfend wie
ein Pogo-Tänzer beim Punkkonzert
auf dem Podest herum. Manchmal
dirigiert er allein mit der Kraft sei-
nes Unterkiefers. Oder er weist die

Posaunisten mit einem feinen Zu-
cken des Mundwinkels ein und die
Paukisten mit zur Grimasse aufge-
rissenen Augen. Mit rudernden Ar-
men feuert er die Kontrabassisten
an, und mit schwebenden Händen
mäßigt er die Bratschen. Nie Diri-
gentenstab. Immer Drama. „Er at-
met die Noten“, sagt sein Bassist. Er
sei detailversessen, sagt der Flötist.
„Er ist ein Diktator“, sagt der Tenor.
„So haben wir das Orchester noch
nie gehört“, sagen sie in Stuttgart.

Z


wei Sommerwochen lang diri-
giert Currentzis noch in Salz-
burg, dann Mozart in Wien,
Cecilia Bartoli in Luzern. Der von
seinen Agenten in Paris zusammen-
gestellte Terminplan ist eng, die Flü-
ge sind lästig, die Wochen Burnout-
gefährdet. Doch der internationale
Musikzirkus, den T. C. revolutionie-
ren wollte, ist gnadenlos. Er muss
seine Hoch-Zeit nutzen. Er nimmt
deshalb alles mit: große Oper, klei-
ne Konzerte. Das Orchester wird
jetzt von der russischen Sberbank fi-
nanziert und von einer Stiftung mit
Sitz in St. Petersburg. Moskau, Paris,
Hamburg, stehende Ovationen,
schwarze Russenkittel und duften-
de Lorbeerkränze. So rauschhaft sei-
ne Inszenierungen sind, so rausch-
haft ist sein Leben. Manchmal wün-
sche er sich ein „normales Leben“,
sagt Currentzis im Film. „Aber ich
möchte das Gefühl der Ekstase,
wenn ich vor dem Orchester stehe,
gegen nichts tauschen.“
Nur in Perm ist für ihn die Zeit des
Außer-sich-Geratens vorbei. Der Lö-
wenzahn rings um das Opernhaus
ist verblüht. Alte Russen füttern ihre
Tauben, und kleine Mädchen ziehen
auf Skateboards schnelle Kreise. Es
ist Stille eingekehrt. Currentzis
rockt jetzt die Welt. Und Sie wollen
natürlich wissen: Wo bekomme ich
eine Karte? Wie kann auch ich süch-
tig nach Teo werden? Oder hörig. Die
Antwort ist grausam: Es gibt keine
Karten. Die Konzerte sind aus-
verkauft, noch ehe sie im Kalender
stehen. Sie können nur eines tun –
töten Sie jemanden!
Denn wie gesagt, ein bisschen
Schuld und Sühne ist bei Current-
zis immer im Spiel. 2

Sweet Salzburg
Currentzis
knuddelt Opern-
regisseur Peter
Sellars nach der
gemeinsamen
Generalprobe
von „Idomeneo“

68 1.8.2019

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