Der Stern - 01.08.2019

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ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART ACT/STERN

Diese Woche:
Professor Dr. Axel Merseburger,
43, Direktor der Klinik und Poliklinik
für Urologie am Universitäts-
klinikum Schleswig-Holstein

AUFGEZEICHNET VON INGA OLFEN;

ßend zerlegten wir in einer fast zweistün-
digen Prozedur rund 80 Zentimeter Löt-
zinn in etwa halbzentimeterkleine Stück-
chen, die wir am Ende ausspülen konnten.
Es war mittlerweile weit nach Mitter-
nacht. Wenn wir gewusst hätten, dass der
Mann sich eine solche Menge Draht ein-
geführt hatte, hätten wir wahrscheinlich
von vornherein eine andere OP-Methode
gewählt – nämlich mit einen Schnitt die
Blase geöffnet und den Fremdkörper zü-
gig und als Ganzes entfernt. Tja, was sagt
man so einem Patienten am nächsten Tag

A


n einem Samstagabend gegen
neun Uhr stellte sich ein Mann
bei uns vor, mit einem ganz be-
sonderen Problem. Bei der Anam-
nese erzählte der Anfang-30-Jäh-
rige, es habe ihn in der Harn-

röhre gejuckt. Um sich zu kratzen, habe er


einen Draht genommen, extra einen wei-


chen, damit er sich nicht verletze. Nun


könne er diesen aber nicht mehr heraus-


ziehen. Tatsächlich: Aus seinem Penis rag-


te ein Draht. Es handelte sich um Lötzinn


mit einer Stärke von zwei bis drei Millime-


tern, der sich leicht mit dem


Finger verbiegen ließ.


Wir versuchten zunächst,


den Draht vorsichtig zu entfer-


nen. Manchmal gelingt es mit


einer entsprechenden Zange


und im richtigen Winkel bes-


ser, als wenn der Patient es


selbst probiert. Da der Versuch


aber Schmerzen verursachte,


brachen wir ab. Eine Ultra-


schalluntersuchung zeigte le-


diglich, dass dort etwas Me-


tallenes vorhanden war. Der


Mann versicherte uns mehr-


mals, es handele sich nur um


ein kurzes Stück Draht von ma-


ximal zehn Zentimeter Länge,


das sich wohl wie ein Angel-


haken in seiner Harnröhre ver-


fangen haben müsse. Ich be-


sprach mit ihm, dass wir unter


einer kurzen Vollnarkose pro-


bieren würden, ihn aus seiner


misslichen Lage zu befreien.


Wir wollten mittels Harnröh-


ren- und Blasenspiegelung den


verhakten Draht entfernen.


Es zeigte sich schnell, dass


der junge Mann nicht ganz


die Wahrheit gesagt hatte. Der


Draht reichte bis in die Harn-


blase hinein. Und damit nicht


genug. Die Spiegelung der Bla-


se zeigte, dass sich dort etwa


ein knapper Meter Lötzinn wie


ein Wollknäuel aufgerollt hatte. Bei der


Körpertemperatur von gut 37 Grad war der


Draht noch weicher geworden und hatte


sich zusammengewickelt. Als Erstes knips-


ten wir mit einer Zange, mit der man nor-


malerweise Blasensteine zertrümmert, das


aus dem Gewirr herausragende Ende des


Drahtes ab und zogen es heraus. Anschlie-


bei der Visite? Wir gaben ihm ein Kästchen
mit den Metallschnipseln und merkten an,
dass es doch etwas mehr war als erwartet.
Leider passiert es gelegentlich, dass Betrof-
fene uns in solchen Situationen aus Scham
anlügen. Natürlich kann es in der Harn-
röhre aufgrund einer Entzündung zu Juck-
reiz kommen. Ich gehe aber stark davon
aus, dass dies ein Fall von auterotischer Sti-
mulation war. Damals war ich gerade lei-
tender Oberarzt geworden und hatte schon
einige Fremdkörper aus Penissen entfernt:
Pfeifenreiniger etwa oder Wattestäbchen.
Wir hatten auch mal einen Pa-
tienten, der uns einen Bleistift
in seiner Harnröhre so erklär-
te: Er habe nackt gestaubsaugt,
dabei eine Erektion bekommen
und sei dann unglücklich auf
den Stift gestürzt. Generell
kann ich das Einführen von
Gegenständen in die Harnröh-
re niemandem empfehlen, weil
es zu Verletzungen der zarten
Schleimhaut kommen kann.
Meist sind es junge Männer,
die aus der Neugier handeln:
„Was passiert, wenn ich da was
reinstecke?“ Das ist ein unge-
wöhnliches Gefühl, das durch-
aus mit Lust verbunden sein
kann. Mitunter werden auch
Ringe, ähnlich größeren Mut-
tern, über den Penis geschoben,
die wir dann abflexen müssen,
zum Teil mithilfe der Werks-
feuerwehr. Ich kann nur raten,
für solche Ideen lieber dafür
vorgesehenes Sexspielzeug zu
nutzen – und keine Haushalts-
gegenstände umzufunktionie-
ren. Diese sind oft nicht sauber
und können zu Infektionen
führen – oder sich eben nicht
mehr entfernen lassen. Und
wenn doch mal was schiefgeht:
Wir haben als Urologen volls-
tes Verständnis. Es hilft uns
(und damit dem Patienten) un-
gemein, wenn wir wissen, was wirklich
passiert ist. 2

Ein Mann kommt mit einem pikanten Problem in


die Klinik. Ein kleines Missgeschick, sagt er. Dann


aber macht der Arzt eine erstaunliche Entdeckung


Tückisches Handwerkszeug


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DIE DIAGNOSE


GESUNDHEIT


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