Der Stern - 01.08.2019

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FOTOS: NATO; JÖRG CARSTENS/DPA/PICTURE ALLIANCE

K


riegsangst. Es ist noch gar
nicht so lange her. Die
Angst vor einem Krieg,
dieses Gefühl der Hilf-
losigkeit trieb in den 80er
Jahren Millionen Men-
schen auf die Straße, um
gegen die atomare Auf-
rüstung der Supermächte
USA und Sowjetunion zu
demonstrieren. Und heu-
te – steht die Welt wieder
mitten in einem neuen Rüstungswettlauf.
Anfang der 80er Jahre schien es, als gäbe
es kein Entrinnen aus dem Kalten Krieg.
Die Sowjetunion hatte Hunderte landge-
stützter SS-20-Mittelstreckenraketen auf
Westeuropa gerichtet. Nato und USA hat-
ten Pershing-II-Raketen in der Bundesre-
publik stationiert, vor allem das geteilte
Deutschland würde das Schlachtfeld eines
atomaren Krieges sein.
Es waren nervöse, sehr angespannte Zei-
ten. Doch wie ernst die Lage wirklich war,
wurde erst Jahre später bekannt.
Die US-Geheimdienste jedenfalls waren
lange so gut wie ahnungslos, wie fest die
sowjetische Führung davon überzeugt war,
ein nuklearer Erstschlag der USA stünde
unmittelbar bevor. So schien das Nato-
Großmanöver „Able Archer“ im November
1983 in der Bundesrepublik den Männern
im damaligen Politbüro Tarnung für den
geplanten Nuklearangriff. Kriegsangst, im
Kreml grenzte sie an Hysterie.
„Noch nie seit Ende des Zweiten Welt-
kriegs war die Lage in der Welt so explosiv
wie in der ersten Hälfte der 80er Jahre“,
befand Michail Gorbatschow später. Ein
Glück, dass er an die Spitze des Politbüros
gerückt war. Er fasste den Mut, sich von
Feindbildern zu trennen. Und fand im da-
maligen US-Präsidenten Ronald Reagan
einen Partner, der – entsetzt vom Fernseh-
film „The Day After“ über eine nukleare
Apokalypse – seinerseits Vertrauen wag-
te, das im Dezember 1987 zum INF-Vertrag
über die Vernichtung der landgestützten
atomaren Mittelstreckenraketen führte.
Diesem Vertrag lag die ebenso simple
wie komplexe Wahrheit des Atomzeitalters
zugrunde: „Ein Atomkrieg kann nicht ge-
wonnen und darf niemals geführt werden.“
Das INF-Abkommen wurde zum Symbol
einer neuen Epoche, des „goldenen Zeit-
alters“ der Rüstungskontrolle. War es doch
das erste – und bislang einzige – nukleare
Abrüstungsabkommen, das wirklich zur

Vernichtung von Waffen führte, von insge-
samt 2692 landgestützten Mittelstrecken-
raketen. Bis in jedes Detail ausgearbeitete
Inspektionen in bis dahin hochgeheimen
militärischen Einrichtungen begleiteten
die Umsetzung, dazu wurde die „Spezielle
Überprüfungskommission“ SVC für stritti-
ge Fragen eingerichtet. Auch sie wird wohl
bald Geschichte sein.
In der Folge des INF-Abkommens wur-
de der Vertrag über Abrüstung konventio-
neller Waffen in Europa (CFE) möglich, das
Start-Abkommen 1991 und das New-Start-
Abkommen zwischen den USA und Russ-
land über eine weitere Reduzierung
atomarer Sprengköpfe im Jahr 2010. Vor
allem aber bewies der INF-Vertrag, welcher
Anstrengungen es bedarf, welcher Geduld
und welch vertrauensbildender Maß-
nahmen, um im nuklearen Zeitalter einan-
der das Überleben zu sichern.
All das liegt heute ebenso in Trümmern
wie das INF-Abkommen. Von Russland
gebrochen, von den USA zum 2. August auf-
gekündigt, geht niemand mehr davon
aus, dass es noch gerettet werden kann. Vor

wenigen Wochen verabschiedete das
russische Parlament ein Gesetz über die
Suspendierung des Vertrags. Präsident
Putin kündigte an, Russland werde nun
eine mobile Abschussrampe für landge-
stützte Mittelstreckenraketen entwickeln.
Schon spricht man bei den westlichen
Alliierten von einer Ära Post-INF, man will
„den Kollaps managen“. Die in zwei Jahren
anstehende Verlängerung des New-Start-
Abkommens ist fraglich. Selbst die letzte
Säule nuklearer Rüstungskontrolle wankt:
der Nichtverbreitungsvertrag NPT, den
190 Staaten unterzeichnet haben. Darin
verpflichten die sich zum Verzicht auf
Atomwaffen – wenn die Atommächte ih-
rerseits nuklear abrüsten.
Doch ausgerechnet in Deutschland,
einst Zentrum einer mächtigen Friedens-
bewegung, will man es offenbar noch im-
mer nicht wahrhaben: dass längst ein neu-
es nukleares Wettrüsten begonnen hat.
„Die Gefahren neuer Rüstungswettläufe
sind fast vollständig aus dem Fokus der
Öffentlichkeit geraten“, wundert sich
der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf

Im Rahmen eines
US-geführten
Nato-Manöver-
Trainings im Juni
stürmen rumänische
Marine-Soldaten
einen Strand auf
der Insel Saaremaa
bei Estland. Baltops
2019 sollte das
Zusammenspiel
von 16 Nato-
Nationen in der
Ostsee optimieren

+++ Eine neue Generation gigantischer Atomraketen +++


88 1.8.2019
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