Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1
Mützenich. „So gingen gegen das Trans-
atlantische Freihandelsabkommen (TTIP)
Hunderttausende auf die Straßen, die
drohende Aufrüstung lockt nur einige
Ostermarschierer auf Demonstrationen.“

D


abei sind seit Jahren massive nukleare
Modernisierungsprogramme aufge-
legt, allen voran in Russland und den
USA, die über 90 Prozent aller Atomwaffen
verfügen. Zwar ging die Zahl der Nuklear-
waffen 2018 zurück – vor allem, weil die
USA und Russland alte Waffen ausrangier-
ten. Und auch in allen anderen Nuklearstaa-
ten werden die Arsenale aufgerüstet. Füh-
rend etwa bei der Entwicklung mit gleich
mehreren nuklearen Sprengköpfen be-
stückbarer Mittelstreckenraketen: China.
Die neue nukleare Großmacht erteilte
Rüstungskontrollen bislang eine Absage –
auch dies ein Grund für das Ende des INF-
Abkommens, das allein Russland und die
USA bindet. Dazu all die neuen Waffen,
all die neuen Schlachtfelder: Hyperschall-
systeme, neue konventionelle Waffen eben-
so wie Cyber- und autonome Waffensyste-

me, gesteuert von künstlicher Intelligenz,
Informationskriege sowieso.
Stolz berichtete der russische Präsident
über die Entwicklung einer Hyperschall-
Langstreckenrakete, die mit bis zu zehn-
facher Schallgeschwindigkeit fliegen soll;
bald soll eine neue Generation giganti-
scher Interkontinentalraketen in Dienst
gestellt werden. Mit derart todsicherer
Zweitschlagsfähigkeit bringt Putin sein
Land wieder auf Augenhöhe mit den USA.
In den USA begann man bereits unter
Barack Obama mit einer umfangreichen
Modernisierung der Nukleararsenale. Dazu
gehörten auch hochpräzise treffende
Atomsprengköpfe mit vergleichsweise ge-
ringer Sprengkraft: „Low yield“-Nuklear-
waffen, einsetzbar etwa in einem regiona-
len Konflikt, einem angeblich führbaren
„begrenzten Nuklearkrieg“.
Damit aber könnte die US-Strategie der
„erweiterten Abschreckung“ obsolet wer-
den, die letzte Rückversicherung für Euro-
pa. Ihr zufolge würde der US-Präsident im
nuklearen Ernstfall Washington riskieren,
um Berlin oder Riga zu verteidigen. „Groß-

mächte würden keinen Selbstmord für ihre
Verbündeten begehen“, konstatierte US-
Großdenker Henry Kissinger schon vor
Jahren. Daher, so die Vertreter der seit 2018
geltenden neuen US-Nuklearstrategie,
müssten die USA in der Lage sein, „be-
grenzte und effektive“ Nuklearschläge aus-
zuführen. Dies diene auch der Verteidi-
gung der Verbündeten. Und macht sie im
Zweifel zum Schlachtfeld.

E


s ist wohl einer der wenigen Bereiche,
in denen Donald Trump der Politik sei-
nes Vorgängers folgt: 1,2 Billionen Dol-
lar sollen in den kommenden 30 Jahren in
Modernisierung und Ausbau der nuklea-
ren Streitkräfte investiert werden; wohl
auch in die Entwicklung neuer seegestütz-
ter Atomwaffen und eines neuen land-
gestützten Marschflugkörpers. Nahezu
ungehört verhallt die Mahnung des ehe-
maligen US-Senators Sam Nunn: „Die USA
und Russland schlafwandeln in eine nu-
kleare Katastrophe.“
Aus Moskau heißt es, die USA hätten den
INF-Vertrag beerdigt, nur der letzte Schritt
einer ganzen Reihe feindseliger Maßnah-
men. Zu denen gehöre die US-Kündigung
des Raketenabwehrvertrags ABM schon
2002, der Test von Kampfdrohnen, vor al-
lem aber die Einrichtungen der US-Rake-
tenabwehr in Rumänien und demnächst
in Polen. Von deren Startrampen Mk-41
könnten auch Offensivwaffen gegen Russ-
land gefeuert werden. Vorwürfe, die die
USA bislang nicht überzeugend entkräfte-
ten, Inspektionen sind nicht erlaubt. Die
USA, meint ein hoher deutscher Diplomat,
ließen in dieser heiklen Frage die west-
lichen Verbündeten eher im Unklaren.
Nein, Russland sei verantwortlich, heißt
es in Washington und mittlerweile ein- 4

Die USA lassen ihre Verbündeten eher im Unklaren +++


Demonstranten forderten schon 2017 den
Stopp der nuklearen Aufrüstung – und den Abzug
von Atomwaffen aus Büchel in der Eifel

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