Der Stern - 01.08.2019

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Als Studentin lebte Katja Gloger
1983 in Moskau. Viele ihrer
russischen Freunde glaubten
damals, ein Krieg sei unvermeidbar.
Zum Glück kam es anders FOTO: BOB DAUGHERTY/AP/DPA

hellig auch bei der Nato in Brüssel unter
Bezug auf von den USA vorgelegte Beweise,
die allerdings geheim blieben. Seit Jahren
habe Putin das INF-Abkommen gebrochen.
Bereits 64 Marschflugkörper des Typs 9M729,
Nato-Code SSC-8 „Schraubenzieher“, seien
auf vier russischen Militärbasen stationiert.
Nach US-Geheimdienstinformationen
kann die Rakete mehr als 2000 Kilometer
weit fliegen, eine klare Bedrohung Euro-
pas. Nach russischen Angaben reicht sie
allerdings höchstens 480 Kilometer weit,
bleibt damit knapp unter der 500-Kilome-
ter-Grenze der INF-Vereinbarungen.

P


utins Raketen – ein klarer Bruch des
INF-Vertrags; der von Trump in einem
lapidaren Nebensatz angekündigte
Vertragsaustritt der USA die – von beiden
Seiten erwünschte – Folge. Und ein politi-
scher Punktsieg für Wladimir Putin, der
sich und sein Land erneut als unschuldi-
ges Opfer amerikanischen Hegemonial-
strebens darstellen kann. Und damit auch
versucht, die Nato politisch zu spalten
Eine neue Epoche der Konfrontation hat
also begonnen: „Post-West“. Nicht nur aus
russischer Sicht zerbricht die von den USA
dominierte liberale Ordnung. Die neuen
„souveränen“ Führungsmächte wie China,
Indien und Russland tragen den Westen zu
Grabe. Und die Zukunft liegt in „Greater
Eurasia“, einem neuen Superkontinent.
Angebrochen sei eine gefährliche Zeit mit
„hohem Kriegsrisiko“, schreibt der Verfech-
ter russischer Geostrategie, Sergej Karaga-
now. Denn in einem letzten verzweifelten
Aufbäumen wollten die USA den globalen
Kampf um diese neue, multipolare Weltord-
nung gewinnen: Nicht Russland, sondern
„die USA sind die revisionistische Macht!“
Mit der Strategie „präventiver Abschre-
ckung“ – mit massiver Aufrüstung – setze
sich Russland also gegen die USA zur Wehr.
Doch nicht das Territorium der USA, son-
dern das der Länder, die amerikanische
Raketen stationieren, werde bei einer mili-
tärischen Auseinandersetzung „zum Ob-
jekt der Zerstörung“, warnte der russische
Generalstabschef Walerij Gerassimow.
In dieser neuen Weltordnung scheint
selbst der bislang wichtigste Verbündete,
die USA, nicht mehr auf Europa zu setzen


  • zumindest nicht mehr auf „Old Europe“.
    Trump kritisiert die Deutschen als vertei-
    digungspolitische Schmarotzer, die sich
    um das Zwei-Prozent-Ziel drücken wollten,
    nur um gleichzeitig Nord-Stream-2-Milli-
    ardendeals mit Putin zu schließen. Unver-


hohlen drohte US-Vizepräsident Mike Pence
während der Münchner Sicherheitskon-
ferenz mit dem Ende der Nato-Solidarität:
„Wir können nicht die Verteidigung des
Westens sicherstellen, wenn sich unsere
Verbündeten vom Osten abhängig machen.“
„Dump Nato“, forderte der ehemalige
Bush-Berater und Trump-Unterstützer
Christian Whiton, auf den Abfallhaufen
der Geschichte. „Was verteidigen wir da
eigentlich genau? Atheismus, Globalismus
und Multikulturalismus.“ Allein mit eini-
gen Staaten des „Neuen Europa“ könne
man kooperieren, mit Polen etwa und den
baltischen Republiken: „Sie haben noch
Kampfesmut.“
Als ob sich ein perfekter Sturm zusam-
menbraute: nukleare Aufrüstung, Raketen
gegen Europa, eine gespaltene Nato, die
transatlantische Partnerschaft in der
schwersten Krise seit der Nato-Gründung
vor 70 Jahren. Wie soll sich Deutschland
verorten? Eine neue Sicherheitspolitik
definieren? Die von Kanzlerin Merkel be-
schriebenen europäischen „geostrategi-
schen Interessen“ wahrnehmen? Außenmi-
nister Heiko Maas versuchte sich in besorg-
ter Pendeldiplomatie zwischen Moskau
und Washington. Die Appelle verpufften.
Knapp die Analyse des Experten für ato-
mare Rüstungskontrolle des Hamburger
Instituts für Friedensforschung und Si-
cherheitspolitik, Ulrich Kühn: „Reden mit
Russland? Na klar. Aber wer hört dort noch
zu? Schon Trumps Gerede über die angeb-
lich obsolete Nato ist ein Jahrhundert-
geschenk für Putin. Mit der Aufkündigung
des INF-Vertrags durch die USA hat er noch
eins dazubekommen. Putin kann weiter
aufrüsten, leugnen, die Europäer im Un-
klaren lassen, die Verantwortung auf die
USA schieben.“

Russland habe zurzeit wohl mehrere
Dutzend Mittelstreckenraketen stationiert.
Zwar ändere sich damit rein militärisch
nicht viel. „Aber wenn die Zahl auf 200
wächst und mehr? Angesichts dessen, was
auf dem Spiel steht, hat die Bundesregie-
rung bislang eher halbherzig agiert.“
„Wir werden wohl nachrüsten müssen“,
vermutet ein hochrangiger polnischer
Diplomat bei der Nato. „Die Europäer müs-
sen dem Kreml überzeugend darlegen,
dass sie Russlands wachsendes Arsenal
nicht einfach akzeptieren werden“, meint
Ulrich Kühn. „Zugleich aber müssen sie
Washington überzeugend demonstrie-
ren, dass Europa genug tut, um jede De-
batte über die Stationierung neuer land-
gestützter US-Marschflugkörper über-
flüssig zu machen.“

M


an suche nach konventionellen Ant-
worten, heißt es beschwichtigend.
Nato-Generalsekretär Jens Stolten-
berg schloss – bislang – sogar eine Statio-
nierung neuer Raketen in Europa aus:
„Wir werden Russland nicht spiegeln.“
Doch denkbar wären Raketenabwehr-
installationen an strategisch wichtigen
Orten für den Nato-Nachschub wie etwa
Ramstein oder Bremerhaven – also in
Deutschland. Denkbar auch die Verlegung
von US-Bombern nach Westeuropa. Und
zusätzlich Nato-Truppen, die in osteuro-
päischen Mitgliedsländern stationiert
würden – auch deutsche Soldaten.
Erhöhte Präsenz, neue Waffen, mehr Ab-
schreckung – allein eine mögliche neue,
konventionelle Nachrüstung wäre gefähr-
lich genug. Sträflicher allerdings wäre die
Hoffnung, man könne Putin oder Trump
aussitzen. Die Amerikaner seien generell
nicht mehr willens, die Lasten einer glo-
balen Führungsmacht allein zu tragen,
mahnt der langjährige Staatssekretär im
US-Außenministerium, Philip Gordon.
„Die Europäer müssen sich endlich zu
einer wirklich gleichwertigen Partner-
schaft bekennen.“
Es ist eine besorgniserregende Zeit. Eine
Zeit voller unangenehmer Wahrheiten, in
der intellektuelle Disziplin gefragt ist und
Mut und Moral; beste Staatskunst.
Tja. 2

+++ „Nato weg“, fordert ein Trump-Unterstützer +++


Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten Polit-
büro-Chef Gorbatschow und US-Präsident
Reagan den Vertrag über die Vernichtung
aller landgestützten Mittelstreckenraketen.
Er läuft nun am 2. August 2019 aus

90 1.8.2019
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