Der Stern - 01.08.2019

(nextflipdebug2) #1

D


as Glas ist jetzt definitiv halb leer.
Okay, es ist statt Wasser immerhin
Aperol Spritz darin, aber trotz-
dem: Der Sommer biegt ins letzte
Drittel ein. Immer um diese Zeit
packt mich Verlustangst. Lag im
Mai noch alles prachtvoll vor mir, ist der
ganz Spaß bald wieder vorbei. Dabei hab
ich noch gar nichts gemacht!
Kein Freibad. Keine Mecklen-
burger Seenplatte. Nicht mal
Rad gefahren! Dafür E-Scooter,
aber das würde ich öffentlich
nie zugeben. Zwischenzeitlich
hätte ich Zeit gehabt, aber genau
in diesen Phasen präsentierte
sich Hamburg als miese Island-
Kopie. Jeden Sommertag mit
14 Grad und Regen empfinde
ich als persönliche Beleidigung,
als Raub, als Körperverletzung.
Und auch wenn der Klimawan-
del alles gibt: Die Sommer in
Deutschland sind so kurz.
Ich kann nur dazu aufrufen,
jetzt an diesen heißen Tagen
rauszugehen. Schaffen Sie Erin-
nerungen. Selbst mittelmäßi-
ge Waldspaziergänge wachsen
in der Rückschau zu wunder-
vollen Tagen an. Bevor es zu spät
ist und man sich „dann halt
nächstes Jahr sagen hört“. Angst
essen Sommer auf.
Einmal packte es mich, und
ich bin spontan an die Ostsee
gefahren, nach Klingberg. Als
Kind war ich alle zwei Jahre mit
meinen Eltern dort. Inmitten
von Feldern, Wiesen, Wasser.
Fahrradfahren, Schnitzeljagd,
Ruderboote. Herrliche, analoge
Kindheit.
Ich war ewig nicht dort. Ganz allein
angekommen, habe ich mir den Bungalow
am See gemietet, in dem wir früher drei
Wochen lang wohnten. Jetzt, erwachsen,
durfte es das Elternschlafzimmer sein.
Aber was heißt „Schlafzimmer“ – es war ein
Schrankbett im Wohnzimmer. Ich schritt
noch mal alle zentralen Punkte meines
kindlichen Koordinatensystems ab. Der

alte Kornspeicher. Die einsame Telefon-
zelle. Das Freibad am See.
Bist du dann Vater, ist es das eigene Kind,
durch das ganz neue Erlebnisse entstehen.
Uncool und banal, aber eben auch: schön.
Dieser eine Tag mit der Tochter am Elb-
ufer. Dort, wo du nur zum Wasser gelangst,
wenn du durch knöcheltiefen schwarzen
Schlamm watest. Mit der Raffaello-Insel

hat das wenig zu tun, für ein Kind aber
ist es das Größte. Die kleinen Beine im
kühlenden Schmodder. Der Kampf gegen
das Einsinken, weil dieser Pudding so
unfassbar zäh ist. Das Kind sieht derweil
aus wie diese ölverschmierten Vögel im
Golf von Mexiko, aber was soll’s. Zumin-
dest die Kleidung kriegt nichts ab. Die ist
schon lange abgelegt.
Strand. Fußball. Fangen spie-
len. Wasserspritzpistole. Ver-
filzt und halb nackt geht es auf
meinen Schultern zurück zum
Auto. Ihr Wassereis tropft auf
meinen Kopf. Alles ist verklebt
und versandet, überhitzt und
wunderbar.
Zurück in der Stadt, kommt
mein Freund Olli vorbei, mit
seinem Hund Arthur, den sich
gleich meine Tochter greift.
Schlammverkrustet und nur in
dreckiger, einst weißer Unter-
wäsche dirigiert das Mädchen
den Zwergschnauzer zum ver-
snobten Italiener nebenan. Das
Personal gibt sich freundlich,
kann seine passive Aggression
aber kaum unterdrücken. Wir
sehen alle aus wie Festivalbe-
sucher – am Ende des Festivals.
So sitzen wir da – versifft, er-
schöpft und glücklich.
Was für eine herrliche Zeit.
Und was für ein Geschenk, sich
diese kindlichen Gefühle zu-
mindest für ein paar Momen-
te borgen zu dürfen. Der Duft
von Kornfeldern. Verbrannter
Rasen unter den Füßen. Hose
hochkrempeln und in den
Springbrunnen steigen. Lam-
pions über billigen Bierbänken.
Und jetzt raus mit euch.
In ein paar Wochen sitzen wieder die
Krähen auf gefrorenem Acker. 2

Jetzt ist: Sommer! Aber er geht so schnell vorbei.


Höchste Zeit, Momente zu schaffen, die man vielleicht


sein Leben lang nicht mehr vergisst


Und nun raus mit euch


98 1.8.2019

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BEISENHERZ


Der Autor und Moderator Micky Beisenherz („Das Lachen der Anderen“, „ZDF Heute-Show“, „Extra 3“)
schreibt alle zwei Wochen im stern – und regelmäßig auch bei stern.de

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ILLUSTRATION: DIETER BRAUN/STERN; FOTO: DAVID MAUPILÉ
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