Die Welt Kompakt - 22.07.2019

(avery) #1
Suhlen im eigenen Leid. Die Er-
zählweise des Films ist dabei
nicht psychologisch, sondern als
Bewusstseinsstrom angelegt.
Scheinbar zusammenhangslose
Fragmente, die sich aus Vergan-
genheit, Zukunft und Gegenwart,
aus Erinnerungen, Vorstellungen
und Träumen speisen. Ein forma-

les Wagnis, das von der Struktur
her ein wenig an Tarkowskis „Der
Spiegel“ erinnert, dessen Filme
für Reygadas dem eigenen Be-
kunden nach eine wichtige Inspi-
rationsquelle darstellen.
In „Post Tenebras Lux“ wie
auch in seinem zweiten Film
„Battle of Heaven“ (2005) — der
von den vergeblichen Versuchen
des Chauffeurs Marcos handelt,
eine schwere Schuld zu verdrän-
gen — spielen die rassistischen
Strukturen der Klassengesell-
schaft und das ökonomische und
soziale Gefälle in Mexiko eine
zentrale Rolle. Als Juan in „Lux“
seinen ehemaligen Arbeiter und
jetzigen Freund The Seven dabei
überrascht, wie er Elektrogeräte

aus seinem Holzhaus klaut, wird
ihm dieser in einer unnötig er-
scheinenden Trotzreaktion mit
einer Waffe eine Kugel in den Rü-
cken jagen. Rätselhaft und nüch-
tern ist diese unnötige Gewalttat
inszeniert, opernhaft und etwas
aufgeblasen dagegen der Schluss
des Films, in dem nach einer
Selbstenthauptung ein Blutregen
vom Himmel fällt. In diesem von
Drogenkriegen verrohten Land
dreht sich die Gewaltspirale im-
mer weiter. Allein im Jahr 2017
sind diesem innerstaatlichen
Krieg über 25.000 Menschen
zum Opfer gefallen.
Reygadas versammelt für ei-
nen langen Drehzeitraum ein
kleines Team und für seine Be-
setzung keine SchauspielerIn-
nen, sondern ihm nahestehende
Menschen um sich. Diese Ar-
beitsweise ermöglicht ihm nicht
nur, eine — manchmal auch un-
angenehm ausgestellte — Intimi-
tät von Körpern vor der Kamera
herzustellen, sondern auch male-
rische Lichtstimmungen und
Wolkenkonstellationen von
atemberaubender Schönheit ein-
zufangen.
Legendär ist die Anfangsse-
quenz seines dritten Films „Stel-
let Licht“(2007), der in einer
Mennoniten-Kolonie spielt und

eine einfache Geschichte von ei-
nem Familienvater erzählt, der
eine Frau liebt, die nicht die sei-
ne ist. Erst wird ein nächtlicher
Sternenhimmel gezeigt, und
dann schaut man der Sonne beim
Aufgehen zu. Fünf Minuten lang
fährt die Kamera durch eine
Landschaft. Auf der Tonebene
hört man Grillenzirpen, nach ei-
ner Weile Vogelgezwitscher. Die
Sonnenstrahlen bringen das
Licht und in der Ferne beginnen
die Rinder zu brüllen. Mehrere
Monate verbringt Reygadas in
der Tonmischung, um so ein in-
tensives Hörerlebnis herzustel-
len. Das Kino ist der Ort, wo Hin-
gabe möglich ist. Hierfür kämpft
Reygadas mit seinem Werk.
In dem letztes Jahr auf dem
Filmfest Venedig uraufgeführten
Film „Nuestro Tiempo“, der der-
zeit in den deutschen Kinos zu
sehen ist, geht es um ein Paar,
das eine offene Beziehung führt.
Der Dichter Juan versucht, die
Kontrolle zurückzugewinnen, in-
dem er sich mit einem von Esters
Liebhabern heimlich verbrüdert
und für sie zugleich eine andere
Affäre einfädelt. Der Film insis-
tiert mit einer beeindruckenden
Beharrlichkeit darauf, diesen
Konflikt in all seinen Facetten
auszuleuchten. Konsequent wird

keine Peinlichkeit der männli-
chen Hauptfigur ausgespart, was
zu einigen ausgesprochen komi-
schen Szenen führt. Schade ist
nur, dass sich der Film für die
Peinlichkeiten der Frau sowie für
ihre Entscheidungsfindungen
und Beweggründe wenig interes-
siert.
Eine vielfältige Repräsentation
von Begehren und Geschlechtsi-
dentitäten sucht man in Reyga-
das Filmen vergebens. Der biolo-
gisch zugewiesene Mann verhält
sich männlich, die Frau weiblich
im Sinne der gesellschaftlichen
Norm. In Reygadas filmischen
Universum wird das Verhalten
nicht als erlernt gezeigt, sondern
als biologisches Schicksal. Das
Balzverhalten von Tieren, in
„Nuestro Tiempo“ Stieren, kom-
mentiert durch die Montage ex-
plizit den Handlungsverlauf. Ge-
walt entspringt natürlichen Ur-
kräften und ist nicht Folge sozio-
logischer Bedingungen. Bereits
in der Ouvertüre agieren kleine
Jungs wie Krieger, während Mäd-
chen sich gemeinsam die Haare
kämmen und Konversation be-
treiben. Zumindest wird im letz-
ten Drittel des Films ein Brief
von Ester vorgetragen, in dem sie
ihre Sicht auf die Geschichte er-
läutern kann. Überraschend

transformiert sich dieser sinnlich
poetische Film, der auf einer
Ranch spielt, die eine Stierzucht
für Stierkämpfe betreibt, zu ei-
nem Kammerspiel aus dem 18.
Jahrhundert. Reygadas räumt
hier der Sprache in Form von
ausführlichen Emails, SMS-Tex-
ten und Dialogen viel Platz ein,
was in seinem Werk durchaus ein
Novum darstellt.
Nach der Vorführung des
Films – im Rahmen der Berliner
Werkschau – wehrte Reygadas ei-
ne auf die konventionellen Ge-
schlechterrollen abzielende Pu-
blikumsfrage ab und behauptete,
dass er diese Dreiecksgeschichte
genauso in einer anderen Ge-
schlechterkonstellation — also:
Frau zwingt ihren untreuen
Mann zum Sex mit anderen Frau-
en — hätte drehen können. Es
bleibt ein schönes Gedanken-
spiel, sich diesen Film einmal so
vorzustellen.

TNicolas Wackerbarth, geboren
1 973, ist Filmemacher, Autor und
Mitherausgeber des Film-
magazins „Revolver“. Nach
seinem Studium an der DFFB
drehte er mehrere Spielfilme,
zuletzt „Casting“, der auf der
Berlinale lief. Wackerbarth lehrt
an Kunst- und Filmhochschulen.

Szene aus „Nuestro Tiempo“,
Carlos Reygadas’ neustem Film,
der gerade im Kino läuft

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