Die Welt Kompakt - 22.07.2019

(avery) #1
Marco (o.) führt
heute eine Beziehung
und ist Vater einer
Tochter. Sven sagt:
„Mein Leben ist er-
bärmlich“

bei einer Fraktionsanhörung vor
FDP-Bundestagsabgeordneten.
„Mir war klar, dass die drei Män-
ner darum so viel für ‚ihren‘ Jun-
gen taten, weil sie mit ihm ein se-
xuelles Verhältnis hatten“, heißt
es 1988 in einem Gutachten Kent-
lers zur Eignung Homosexueller
als Pflegeeltern.
Und doch gab das Berliner Ju-
gendamt 1989 Marco auf Kentlers
Ratschlag zu seinem Pflegevater
Fritz H.
„Meine Mutter wollte mich
schon ein Jahr später wieder zu-
rückhaben“, sagt Marco, „aber
sie hatte keine Chance.“ Die
Rückführung von Pflegekindern
zu den leiblichen Eltern gilt ei-
gentlich als oberstes Ziel des Ju-
gendamts. Doch Kentler empfahl
in drei Stellungnahmen an das
Berliner Familiengericht, an Mar-
cos pädophilem Pflegevater fest-
zuhalten. Dessen Eignung war
von einer Ärztin, die Auffälligkei-
ten in Marcos Verhalten feststell-
te, in Zweifel gezogen worden.
1993 – da war Marco zehn Jah-
re alt und viele weitere Jahre
Martyrium hätten ihm erspart
bleiben können – schrieb das
Frauenmagazin „Emma“, Kentler
empfehle sogar vor Gericht „die
Unterbringung straffälliger Jun-
gen bei pädagogisch interessier-
ten Päderasten“. Es ergebe sich,
so Kentler sinngemäß, eine Win-
Win-Situation. Die Jugendlichen
erhielten ein Zuhause und die
Pflegeväter Sex.
Das Berliner Jugendamt des
SPD-geführten Senats arbeitete
zur Zeit der Unterbringung Mar-
cos mit Kentler, einer Schlüssel-
figur der pädosexuellen Szene,
eng zusammen.
„Es ist ganz deutlich, dass hier
ein Verbrechen in staatlicher
Verantwortung stattgefunden
hat“, sagt die Berliner Bildungs-
senatorin Sandra Scheeres (SPD)
heute. Zwar hat Scheeres den Fall
wissenschaftlich aufarbeiten las-
sen. Die Politikwissenschaftlerin
Teresa Nentwigvom Göttinger
Institut für Demokratiefor-
schung – das auch einige Jahre
zuvor die Rolle der Pädophilen
bei den Grünen in den Anfangs-
jahren der Partei untersuchte –
veröffentlichte 2016 ein Gutach-
ten über die „Unterstützung pä-
dosexueller beziehungsweise pä-
derastischer Interessen durch
die Berliner Senatsverwaltung“.
Doch Nentwig konnte nicht
beweisen, welcher Mitarbeiter
des Jugendamts letztendlich die
Unterbringung der Kinder
durchgewunken hat. Wichtige
Akten durfte sie nicht einsehen.
Die Nachfolgestudie ist nun an
die Universität in Hildesheim ge-
gangen. Der Senat sagt, das Göt-
tinger Institut habe das Interesse
in den Vertragsverhandlungen
für das neue Gutachten überra-
schend zurückgezogen. Nentwig
gibt an, dass neben anderen
Gründen die Konditionen des Se-
nats für die Forscher nicht ein-
haltbar gewesen seien.
Die Wissenschaftler aus Hil-
desheim arbeiten nun seit Sep-
tember des vergangenen Jahres
an ihrem Gutachten. Mit Marco
haben sie bislang nicht über sei-

ne Vergangenheit gesprochen.
Das ist erstaunlich, wo es doch
erstes Ziel des Forschungspro-
jekts ist, „durch die Aufarbeitung
Betroffene in ihren Rechten zu
stärken“.
Das erste Gutachten hatte
Marco erst klargemacht, welches
Unrecht ihm passiert ist. 2016 las
er in einer Zeitung über den For-
schungsbericht aus Göttingen.
Er verdrängte es wieder. Doch
das Ganze kam hoch, und ihm
dämmerte der Zusammenhang.
Kentler. Pflegekinder. Pädophile
Pflegeväter. Ich bin eines der Op-
fer. Nach einigen Monaten fasste
er sich ein Herz und rief bei Tere-
sa Nentwig an.
Sven, Marcos Pflegebruder,
war ein Findelkind. Er kam aus
einem anderen Land nach
Deutschland, woher genau, weiß
er nicht. „Ich weiß nur, dass mei-
ne Mama mich sehr lieb hatte.“
Dass es viele Geschwister gab
und ihre Wohnung keine Fenster
hatte, daran erinnert er sich.
Mit fünf Jahren wurde Sven an
der Berliner Gedächtniskirche
gefunden. Schwer unterernährt,
an Hepatitis A leidend. Zwei Jah-
re blieb Sven im Krankenhaus.
„Das war die beste Zeit meines
Lebens“, sagt Sven. Danach kam
er zu H. „Er tauchte auf einmal
im Krankenhaus auf und gab mir
ein Maxi Malz aus“, sagt Sven. Er
liebte Maxi Malz.

Sven ist heute 35 Jahre, hat ei-
ne kleine, robuste Statur und
warme braune Augen, in denen
man eine Spur davon sieht, wie er
hätte werden können. Ein lusti-
ger, herzlicher Mann. Aber Sven
ist am Ende, wie er sagt, „mein
Leben ist erbärmlich. Einfach er-
bärmlich. Wenn ich meinen
Glauben nicht hätte,wäre ich
schon längst schlafen gegangen.“
Aber auch er nimmt es noch mal
auf mit der Welt. „Ich tue es für
meinen Bruder und für meine
kleine Nichte.“
Svens Pflegebruder Marco hat
es geschafft, sich auf eine Bezie-
hung einzulassen. Seit zwölf Jah-
ren kennt er nun seine Freundin,
er kam zum Haareschneiden zu
ihr. Marco ist ein attraktiver
Mann und seine Lebensgefähr-
tin, Friseurmeisterin, hat nicht
aufgegeben, um ihn zu kämpfen.
Heute wohnen sie zusammen
und haben eine vierjährige Toch-
ter. Das zweite Kind kommt bald.
Es könnte alles so herrlich
sein.
Marco hat schwere Folgeschä-
den durch seine Jahre bei Fritz H.
Seine Panikattacken sind schlim-
mer geworden, seit er sich klar

darüber wurde, was passiert ist.
Er denkt dann, er stirbt jeden
Moment, bekommt keine Luft
mehr und Herzrasen. Alle 30 Mi-
nuten stellt sich Marco nachts
den Wecker, damit er überprüfen
kann, ob seine Tochter noch at-
met. „Ich weiß, es ist Quatsch,
aber ich muss es tun.“
Marco kann nachts nicht ne-
ben seiner Lebensgefährtin schla-
fen. Die Atemgeräusche erinnern
ihn an seinen Pflegebruder Mar-
cel. Auch für ihn wollen Marco
und Sven späte Gerechtigkeit.
Jeden Nachmittag musste
Marco am Bett seines kleinen
Pflegebruders Marcel sitzen,
schwerst mehrfachbehindert.
Marcel lachte bei der kleinsten
Aufmerksamkeit, manchmal
spielte er ihm mit Handpuppen
etwas vor. Marcos Augen füllen
sich mit Tränen. „Ich mache mir
Vorwürfe, dass ich ihn nicht ret-
ten konnte.“
Marcel ist vor Marcos Augen
erstickt. „H. hat ihn nur mit Mül-
lermilch mit Sojapulver ernährt.
Das bekam er aus der Nuckelfla-
sche“, erzählt Marco. Marcel war
Tetraspastiker, Arme und Beine
waren gelähmt. Seine Lunge war
stark verschleimt, weil er nicht
abhusten konnte. „Ich war 14 Jah-
re und musste seinen Todes-
kampf mitansehen. H. hat ja kei-
ne Ärzte zugelassen, sicherlich

kampf mitansehen. H. hat ja kei-
ne Ärzte zugelassen, sicherlich

kampf mitansehen. H. hat ja kei-

war Marcel auch stark unterer-

nährt“, sagt Marco. „Es ist nicht
auszuschließen, dass auch er
missbraucht wurde.“
Marco zeigt ein Foto von Mar-
cel, das in einer Schublade der
Schrankwand liegt, das Glas des
Rahmens ist zerbrochen. Darauf
ist ein zarter dunkelhaariger Jun-
ge zu sehen. „Der Kleine war ja
am hilflosesten von uns allen“,
sagt Sven.
Ein Tetraspastiker in der Ob-
hut eines pädophilen Pflegeva-
ters? „Es ist nie jemand von Ju-
gendamt gekommen, um H. zu
kontrollieren oder um Marcels
oder unseren Zustand zu über-
prüfen. In unseren gesamten 14
Jahren nicht ein einziges Mal“,
sagt Marco. Nur Helmut Kentler
besuchte H. regelmäßig und be-
scheinigte dem Jugendamt, alles
laufe prima, H. sei ein „pädagogi-
sches Naturtalent“.
Die Ähnlichkeit zwischen
Marco, Sven und Marcel ist auf-
fällig. Man könnte sie ohne zu
zögern für leibliche Geschwister
halten. Fritz H. muss eine Vorlie-
be für dunkelhaarige Jungen ge-
habt haben.
Der Strafprozess gegen Fritz
H. ist abgeschlossen und einge-

stellt. Die Tat ist verjährt, H. ver-
storben.
Aber der neue Prozess gegen
das Land Berlin wird bald begin-
nen. Noch hat Rechtsanwalt Phi-
lipp Martens keine Anklage, son-
dern zunächst einen Prozesskos-
tenhilfeantrag eingereicht. Dafür
muss er Anhaltspunkte liefern,
dass seine Klage Aussicht auf Er-
folg hätte. Das Gericht hat noch
nicht entschieden, aber das Be-
zirksamt Tempelhof-Schöneberg
plädierte dafür, die Prozesskos-
tenhilfe abzulehnen. Rein fachli-
che Gründe seien für die Unter-
bringung bei Fritz H. ausschlag-
gebend gewesen.
Der Knackpunkt dabei ist eine
drohende Verjährung. Der An-
spruch auf Haftung des Staates
besteht drei Jahre nach Kenntnis
der Tat. Martens muss nachwei-
sen, dass es nicht Schuld seiner
Mandanten ist, dass sie nicht eher
das Land Berlin verklagt haben.
Marco war lange Zeit nicht klar,
welches Unrecht ihm widerfahren
ist. „Ich hab ja immer gedacht,
das alles sei normal“, sagt er.
Der Senat sieht keine Möglich-
keit, den Opfern Schmerzensgeld
zu zahlen. Zwar hätten sich Sena-
torin Sandra Scheeres und
Staatssekretärin Sigrid Klebba
intensiv dafür eingesetzt, dass
die Betroffenen bestmöglich un-
terstützt werden, schreibt die
Pressestelle auf WELT-Anfrage.
„Aber manche Forderungen wie
die nach Auszahlung eines
Schmerzensgeldes kann die Se-
natsverwaltung – bei allem Ver-
ständnis für die Betroffenen –
nicht einfach erfüllen“, heißt es
in der Antwort-E-Mail. „Es gibt
dafür keine rechtliche Grundla-
ge, und wir verfügen auch nicht
über einen ‚Geldtopf‘, aus dem
dies bezahlt werden könnte.“
Marcos Anwalt Martens kann
das Verhalten des Senats bei aller
professionellen Distanz nicht
nachvollziehen. „Die Abwehrhal-
tung des Senats ist zum Teil nor-
males Prozessgebaren“, sagt
Martens. „Natürlich sagen die
nicht, klar, der Staat hat ja von
den Neigungen des Pflegevaters
gewusst.“ Und doch hätte der Se-
nat sich – um die Aufklärung des
Falls zu ermöglichen – auch an-
ders verhalten können. „Wenn
niemand Einrede wegen Verjäh-
rung erhebt, wird sie auch im
Prozess gar nicht relevant“, sagt
Martens. „Nach unserem Vorge-
spräch hätte ich mir einen ande-
ren Weg gewünscht. Einfach,
weil eine Aufklärung im Interes-
se aller sein sollte.“
Sogar der Missbrauchsbeauf-
tragte der Bundesregierung ap-
pelliert nun an den Senat. „Es
sollte in diesem außergewöhnli-
chen Fall das maximal Mögliche
getan werden, um die Opfer ange-
messen zu entschädigen“, sagte
Johannes-Wilhelm Rörig WELT.
„„„Wenn die Familiensenatorin da-Wenn die Familiensenatorin da-
fffür keine Mittel hat, sollte sie dieür keine Mittel hat, sollte sie die
Unterstützung anderer Senats-
verwaltungen einfordern.“ Mit ei-
nem starken politischen Willen
fffinde man hier auch eine Lösung.inde man hier auch eine Lösung.

*Die Namen von Marco und Sven
wurden von der Redaktion geändert.

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,22.JULI2019 PANORAMA 31


,,


Mein Leben ist erbärmlich.


Einfach erbärmlich. Wenn ich


meinen Glauben nicht hätte,wäre


ich schon längst schlafen gegangen


Sven

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Tochter. Sven sagt:

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