Handelsblatt - 22.07.2019

(sharon) #1

Daniel Delhaes Berlin


E


s läuft nicht gut für An-
dreas Scheuer. Der CSU-
Politiker musste nicht
nur am Wochenende in
seiner Heimat Niederbay-
ern einen Dämpfer hinnehmen. Bei
der Wiederwahl zum Bezirkschef der
CSU erhielt der 44-jährige Bundesver-
kehrsminister weniger Stimmen als
bei seiner Erstwahl 2017. Damals
setzten 97,4 Prozent der Delegierten
auf ihn, dieses Mal waren es nur
noch 89,7 Prozent.
Ein Grund ist der Frust über das
Maut-Debakel. Scheuer muss am
Mittwoch trotz Sommerpause nach
Berlin reisen und in einer von der
Opposition beantragten Sondersit-
zung des Verkehrsausschusses Rede
und Antwort stehen. Dabei wird er
auch erklären müssen, warum er
nach dem abschlägigen Urteil des Eu-
ropäischen Gerichtshofs vom 18. Juni
die Verträge mit den beauftragten Be-
treiberfirmen sofort gekündigt und
nicht etwa versucht hat, die bisheri-
gen Arbeiten zu überprüfen – mit
dem Ziel, das weitgehend fertig -
gestellte Mauterhebungssystem zu
übernehmen, um zumindest die
bereits geschaffenen Werte für den
Steuerzahler zu sichern.

Fristen abgelaufen
Scheuer hatte keine 24 Stunden nach
dem Urteil alle Verträge mit den
Betreibern der Autoticket GmbH,
Kapsch Traffic und CTS Eventim,
gekündigt. Unklar ist bis heute, mit
welchem Ziel er so überstürzt gehan-
delt hat. Die Verträge, die Scheuer
am Freitag nach der Freigabe durch
die Unternehmen veröffentlicht hat,
sehen drei Optionen vor: die Kündi-
gung mit dem Ziel der Liquidation
der Autoticket; das Ziel der Übernah-
me der Geschäftsanteile; das Ziel,
Vermögensgegenstände zu überneh-
men. Die Fristen, um eine Bewertung
der Werte mit einer Due Diligence
durchzuführen, sind inzwischen ab-
gelaufen. Dies hätte „innerhalb von
einem Monat nach der Erklärung der
Kündigung des Vertrags“ erfolgen
müssen, wie es im Vertrag heißt. Da
Scheuer am 19. Juni gekündigt hat, ist
die Chance vertan.
Dabei ist die Software, um Maut
einzutreiben, weitgehend fertigge-
stellt, wie das Handelsblatt aus Bran-
chenkreisen erfuhr. „Willkommen
bei Autoticket“ heißt es auf dem Kun-
denportal, auf dem Mautpflichtige
sich einloggen, ihr Fahrzeug anmel-
den und etwa Inländer ein Sepa-
Mandat erteilen können, damit ihre
Zahlung mit der Kfz-Steuer verrech-
net wird. Wie es hieß, wurden das
Kernsystem (TP07) und das Kunden-
portal (TP10) fertiggestellt. Man habe
sogar sechs Wochen vor der Abgabe-
frist im Juli gelegen, hieß es weiter.
Auch die Schnittstellen etwa zum
Kraftfahrt-Bundesamt oder dem Bun-
desamt für Güterverkehr, das für die
Kontrolle zuständig sein sollte, waren

erstellt, wie es weiter hieß. Das Zah-
lungssystem sei ebenfalls schon mit
dem Kernsystem verbunden gewe-
sen. Allein das Kraftfahrt-Bundesamt
hätte noch auf die modernen Syste-
me ausgerichtete Datensätze liefern
müssen, dann wäre die Integration
abgeschlossen gewesen. Die automa-
tisierten Tests hätten belegt, dass das
System uneingeschränkt einsatzbe-
reit gewesen sei, hieß es. Der Probe-
betrieb hätte im September starten
können.
Entsprechend mit Unverständnis
reagierte die Branche auf den Um-
stand, dass Minister Scheuer offen-
kundig die Assets nicht übernehmen
wollte. Auf den Geschäftsanteilen hät-
te er nicht bestehen müssen, da er
bereits im Rahmen der Vergabe des
umstrittenen Pkw-Auftrags auch den
Lkw-Mautbetreiber Toll Collect ver-
staatlicht hatte – unter anderem, da-
mit das Unternehmen Aufgaben und
damit Risiken im hohen dreistelligen
Millionenbereich von der Autoticket

GmbH übernimmt. Nur so konnte das
finale Angebot der Gesellschafter als
Letztbietende den Zuschlag erhalten.
Es hätte ansonsten deutlich über den
2,1 Milliarden Euro gelegen, die
Scheuer im Etat zur Verfügung stan-
den. Er hätte ablehnen müssen. So
konnte er am 30. Dezember 2018 den
Zuschlag erteilen.
Die Kosten und Risiken liegen wei-
ter bei Toll Collect. Das Unterneh-
men hat die Aufgaben mangels eige-
ner Kompetenz an einen Drittanbie-
ter vergeben: Ages, ein Konsortium
der Mineralölkonzerne BP, Shell und
des Tankkartenanbieters DKV, be-
treibt bereits die Lkw-Maut-Ticket-
Terminals an Tankstellen.
Die verstaatlichte Toll Collect hätte
mit dem Argument des Klimaschut-
zes nicht nur die Lkws nach CO 2 -Aus-
stoß kilometergenau bemauten kön-
nen, sondern auch Pkws, hieß es in
Branchenkreisen weiter. Derartige
Systeme fordert und unterstützt die
Europäische Kommission ausdrück-

lich. Wie es hieß, hätte im Kernsys-
tem des elektronischen Pkw-Vignet-
tensystems nur eines von 28 Modu-
len modifiziert werden müssen, um
die Maut nicht nach Tagen, Monaten
oder pro Jahr, sondern streckenbezo-
gen zu erheben.
Warum also hat der Bund die ge-
leisteten Arbeiten nicht übernom-
men? Das Ministerium wollte Nach-
fragen dazu nicht beantworten und
verwies auf die Sondersitzung im
Verkehrsausschuss.
Dort wird Scheuer seine Kündi-
gungsgründe erklären müssen und
auch, warum offenkundig die Liqui-
dation des Unternehmens angestrebt
wurde. Dieses Motiv scheinen die An-
wälte Scheuers empfohlen zu haben,
obwohl er mit den beiden anderen
Optionen (den sogenannten Call-Op-
tionen) zumindest noch einen Gegen-
wert bekommen hätte, wenn er die
Unternehmen ohnehin angesichts
der Kündigung entschädigen muss.
Der Bund muss den Gesellschaf-
tern den „Bruttounternehmenswert“
erstatten, wenn er etwa kündigt, weil
„ordnungspolitische Gründe eintre-
ten“. Dazu gehört das Urteil des
EuGH, das „dem Auftraggeber die
Weiterführung des Vertrags in der
bestehenden Form unzumutbar“
macht. So steht es in den Verträgen.

Der Wert setzt sich zusammen aus
dem entgangenen Gewinn für den
geplanten Betrieb des Systems von
Oktober 2020 bis Oktober 2032.
Nach Informationen des Handels-
blatts aus Branchenkreisen handelt
es sich um gut eine halbe Milliarde
Euro. Diese müsste allerdings gemäß
den zugrunde gelegten Grundsätzen
zur Unternehmensbewertung des
Instituts der Wirtschaftsprüfer in
Deutschland über den Zeitraum dis-
kontiert werden. Hinzu kämen die
bislang aufgelaufenen Kosten von gut
50 Millionen Euro, die dem Unter-
nehmen für Personal, Unterauftrag-
nehmer und vor allem für die nötige
Software für das elektronische Vi-
gnettensystem entstanden sind.
Minister Scheuer ließ nicht nur aus
ordnungspolitischen Gründen kündi-
gen. Um den mögliche Schadens -
ersatz zu minimieren, hat er auch
Schlechtleistung angeführt, da die
Feinplanungsdokumentation nicht
fristgerecht und vertragskonform bis
Ende März vorgelegen habe. Auch
warf er den Unternehmen nachträg-
lich noch „treuwidrige Schädigung“
vor, da die Autoticket nach dem Ur-
teil des Gerichts am 19. und 20. Juni
Verträge mit sieben Unterauftragneh-
mern abgeschlossen habe, ohne die
Zustimmung des Bundes einzuholen.
Allerdings sehen die Verträge vor,
dass die Unternehmen mit einer
„Heilungsfrist“ von acht Wochen, be-
ginnend sechs Wochen nach Zugang
der Kündigung, die Chance haben
müssen, die Fehler zu korrigieren.
Gelingt dies, so ist auch dann der
Bruttounternehmenswert fällig.

Verkehr


Der Schaden durch


die Pkw-Maut wächst


Das Pkw-Mautsystem war so gut wie fertiggestellt. Warum hat Minister


Scheuer darauf verzichtet, es für den Steuerzahler zu sichern?


Verkehrsminister
Scheuer: Warum
wollte er die
bereits entstande-
nen Werte nicht
übernehmen?

DAVIDS/Sven Darmer

Alle die


Infrastrukturabgabe


betreffenden Ausgaben


sind sofort gestoppt


worden.


Andreas Scheuer (CSU)
Bundesverkehrsminister

Wirtschaft & Politik
MONTAG, 22. JULI 2019, NR. 138

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