Handelsblatt - 22.07.2019

(sharon) #1
C. Kapalschinski, C. Schlautmann,
S. Matthes Hamburg, Düsseldorf

E


s ist die wohl größte In-
vestitionsrunde für ein
deutsches Logistik-Start-
up: 70 Millionen Dollar
Wachstumskapital hat
die Berliner Onlinespedition Sennder
in den vergangenen Tagen eingesam-
melt – zusätzlich zu weiteren 30 Mil-
lionen Dollar aus dem Frühjahr. Das
sagte Firmenchef David Nothacker
dem Handelsblatt. Zu den Geldge-
bern gehört Lakestar, die Gesellschaft
des Skype- und Spotify-Investors
Klaus Hommels. Mit dabei sind unter
anderem Flixbus-Investor Holtz-
brinck Ventures, aber auch der Lkw-
Hersteller Scania.
Der Deal zeigt: Aktuell stehen üppi-
ge Investorengelder bereit, um die
Logistikbranche zu revolutionieren.
Die Ansprüche sind hoch. „Sennder
wird den europäischen Logistik-
markt für Full-Truck-Load durch Digi-
talisierung komplett revolutionieren
und den Markt für alle Teilnehmer
nachhaltig verbessern“, hofft Lake-
star-Partner Christoph Schuh. Full-
Truck-Load ist das wichtige Massen-
geschäft im Lkw-Verkehr.
Sennder steht mit seinen großen
Ambitionen nicht allein: Eine ganze
Reihe von Gründern will sich ein
Stück vom 400 Milliarden Euro
schweren europäischen Transport-
markt abschneiden – ein Markt, der
über Jahrzehnte hinweg von traditio-
nellen Speditionen beherrscht wur-
de. „Die neuen Spieler rütteln die
Branche wach“, sagt Oliver-Wyman-
Berater Max-Alexander Borreck.
„Auch Mittelständlern wird klar,
dass rein analog agierende Spediteu-
re die nächsten fünf Jahre nicht
durchhalten werden.“ Telefon,
E-Mail und Fax, bislang in der Bran-
che noch weitverbreitete Kommuni-
kationswege, werden nach Meinung
von Experten allenfalls in der Nische
überleben – etwa für die Vereinba-
rung komplizierter Schwertranspor-
te. „Den Großteil des Geschäfts ma-
chen jedoch Standardprozesse aus,
die völlig digitalisierbar sind“, sagt
Borreck.

Auch Sennder verspricht, dank di-
gitaler Buchungssysteme effizienter
arbeiten zu können als etablierte
Konkurrenten. Das Unternehmen
konzentriert sich auf große Kunden
etwa aus dem E-Commerce, dem
Automobil- oder Stahlsektor – mit
planbaren Fahrten im Komplett -
ladungsverkehr, dem Full-Truck-
Load, ausgeführt von vielen kleinen
Fuhrunternehmen und vermittelt
über Digitaltechnik. Konkrete Kun-
den dürfe Sennder allerdings nicht
nennen, sagte Nothacker.
Im Wettstreit der digitalen New -
comer wird entscheidend, genügend
Fuhrunternehmer zu binden, um die
Kundenwünsche erfüllen zu können:
Sennder lockt die Fuhrunternehmer
mit dem Versprechen, gut zehn Pro-
zent mehr zu zahlen als klassische
Speditionen – bei kürzeren Zahlungs-
zielen. Sie können ihren Kunden-
stamm komplett an Sennder abgeben
und sich das Logo des Start-ups auf
die Lkw-Plane kleben. Nothacker will
die Trucker so auch von der Konkur-
renz fernhalten.
Denn der Wettbewerb ist hart: Der
milliardenschwere Berliner Start-up-
Betreiber Rocket Internet ist mit der
mitfinanzierten Spedition Instafright
dabei. Freighthub, ebenfalls aus Ber-
lin, sammelte erst im Mai weitere 30
Millionen Euro für ein ähnliches Ge-
schäftsmodell ein. Das 2016 gegrün-

dete Start-up, an dem nun auch die
Investmenttochter des dänischen
Reedereiriesen Maersk beteiligt ist,
erwirbt Transportkapazitäten für
Land-, Luft- und Seefracht. Diese ver-
steigert das Start-up anschließend an
den Meistbietenden. Auch mächtige
Ausländer drängen auf den deut-
schen Logistikmarkt. Anfang 2018
zog es Flexport nach Hamburg, ei-
nen 2013 in San Francisco gegründe-
ten Onlinespediteur mit einer Fir-
menbewertung von mehr als einer
Milliarde Dollar.
Dazu kommen die großen Spedi-
tionen, die ihren Turf auch in der di-
gitalen Welt verteidigen wollen: Ent-
sprechend hektisch laufen derzeit in
den Großkonzernen Projekte, um die
Hoheit über die Fracht nicht zu ver-
lieren. So investierte die Bahn-Toch-
ter Schenker zunächst 24 Millionen
Euro in die digitale US-Frachtbörse
Uship, um selbst ins digitale Vermitt-
lungsgeschäft einzusteigen. Doch die
Plattform nutzt Europas größter Lkw-
Transporteur heute nur noch, um in-
nerhalb der eigenen Organisation die
Fracht an Subunternehmer zu vertei-
len. Nach außen hin bastelte Schen-
ker ein zweites Onlineportal: Con-
nect als zentrale Buchungsplattform,
für Luft-, Land- und Seetransporte.
Beim Wettbewerber DHL heißt die
konzerneigene Frachtbörse„Saloo-
do“. Anders als bei Schenker stand

sie von Beginn an auch für Wettbe-
werber offen. Einen durchschlagen-
den Erfolg konnte die Post-Tochter
bislang für ihr groß angekündigtes
Projekt nicht verkünden. Die schlich-
te Onlinevermittlung von Frachtkapa-
zitäten stoße häufig an Grenzen,
heißt es im Konzern. Was, wenn ein
Gabelstapler beim Empfänger fehlt,
das Containerschiff verspätet ist oder
die Ware einen Schaden nimmt. „Bei
einer Panne mit dem Uber-Taxi kann
sich der Fahrgast meist selbst weiter-
helfen“, umreißt Post-Vorstandschef
Frank Appel die Herausforderung.
„Aber Fracht ist dumm und meldet
sich nicht selbst.“
Am weitesten fortgeschritten ist
der Schweizer Speditionsriese Kühne
+ Nagel. Dort sind die Transportleis-
tungen nicht nur online zu buchen
und am PC-Bildschirm zu verfolgen.
Unterstützt durch die Schweizer IT-
Tochter Logindex AG hat sich der
Konzern eine Prognose-Software ein-
richten lassen, die bis zu 60 Tage in
die Zukunft schaut. Seit April 2017
wertet der „Global Kühne + Nagel In-
dicator“ (GKNI) täglich 250 Millionen
Daten aus, die der Speditionskonzern
zum Teil aus den eigenen Frachtbrie-
fen zieht. Hinzu kommen Kennzif-
fern aus dem Welthandel, Wetterbe-
obachtungen oder Staumeldungen in
Seehäfen. Ohne clevere Zusatzleis-
tungen, glauben die Schweizer, wäre
das Geschäft bald an die Billigheimer
verloren.
Auch die Lkw-Hersteller wollen die
neue Zeit nicht verpassen. MAN baut
in seine Fahrzeuge seit 2017 serien-
mäßig die „Rio“-Box ein, mit der Tru-
cker noch während der Tour online
neue Aufträge annehmen können.
Scania aus Schweden ist bei der aktu-
ellen Finanzierungsrunde für Senn-
der dabei.
Die junge Digitalspedition kann
dank der 2019 eingesammelten 100
Millionen Dollar Wachstumskapital
kräftig investieren: Schon im Septem-
ber will Gründer Nothacker in Spa-
nien und Polen neue Büros eröffnen.
In Italien plant er ein Gemeinschafts-
unternehmen mit der dortigen Post,
für die er einen großen Teil der Lkw-
Transporte abwickeln will.

Transportgewerbe


Millionen für


digitale Trucker


Mit 100 Millionen Dollar Investorengeld will die


Online-Spedition Sennder die Branche umkrempeln –


und stößt auf starke Konkurrenten.


Logistikzentrum:
Viele Gründer
drängen auf den
Milliardenmarkt.

E+/Getty Images

Auch


Mittelständ -


lern wird klar,


dass rein


analog


agierende


Spediteure


die nächsten


fünf Jahre


nicht


durchhalten


werden.


Max-Alexander Borreck
Principal bei Oliver
Wyman

Unternehmen & Märkte
MONTAG, 22. JULI 2019, NR. 138

18

Free download pdf