Seine Prognose: In weniger als ei-
nem Jahrzehnt könnte Fracht zu-
mindest auf der Autobahn ohne Fah-
rer unterwegs sein. Viele Fuhrunter-
nehmer würden damit überflüssig,
die Branche komplett umgekrem-
pelt. „Bis dahin müssen wir in eine
sehr starke Position kommen“, sagt
der 31-Jährige. Dafür will er schnell
Marktanteile gewinnen. Es soll nicht
bei den 150 000 Transporten blei-
ben, die in den vergangenen zwei-
einhalb Jahren zusammenkamen.
Zum Vergleich: 2016 summierte sich
die Zahl der deutschen Lastfahrten
auf 257,7 Millionen. Um seine hoch-
gesteckten Ziele zu erreichen, will
Nothacker in zwei bis drei Jahren er-
neut Geld von Investoren einsam-
meln.
Im Werben um Geld konkurriert er
mit anderen Gründern. 28 deutsche
Start-ups allein im engen Feld der
Transportdienstleistungen zählt die
Beratung Agiplan, dazu kommen
dreimal so viele in weiteren Logistik-
Feldern. Und es werden mehr: In
Hamburg hat der Tech-Accelerator
Plug and Play, eine Größe aus dem Si-
licon Valley, vergangenen Monat sei-
ne europäische Zentrale für die Lo-
gistikbranche eröffnet.
Zu den Innovationsführern zählt
das Hamburger Start-up Cargonexx.
Es präsentiert auf seiner Frachtbörse,
auf welchen Lkws kurzfristig freier
Frachtraum zur Verfügung steht –
und das innerhalb von nur elf Sekun-
den. Um Leerfahrten zu vermeiden
und gemeinsam belegte Routen ef-
fektiv zu planen, setzen die Hambur-
ger Künstliche Intelligenz ein. Ihre
Rechner lernen selbstständig.
Konkurrenz aus Asien
Vom rheinischen Erkrath aus hat sich
die familiengeführte Frachtbörse
Timocom seit ihrer Gründung 1997
zum europäischen Marktführer in
der Lkw-Frachtvermittlung empor -
gearbeitet. Dort bieten 130 000
Transporteure Lkw-Stellplätze für
Obst, Spanplatten oder Stahlträger,
zu buchen mit einem simplen Maus-
klick. Auf Wunsch liefert ihnen Fir-
menchef Tim Thiermann die nötige
Software für das eigene Buchhal-
tungssystem gleich mit.
Ein Endkampf der Onlinefrachtver-
mittler ist noch längst nicht in Sicht.
„Es wird sicherlich zu einer Konsoli-
dierung kommen“, sagt Oliver-Wy-
man-Berater Borreck, „aber ich den-
ke nicht, dass nur eine einzige Platt-
form übrig bleibt.“ Doch während die
deutschen Start-ups gegeneinander
mit Millionenbeträgen im Wettstreit
um Kunden und Fahrzeuge antreten,
droht die eigentliche Disruption mög-
licherweise aus Asien. Stolze 7,1 Milli-
arden Dollar haben allein die drei Un-
ternehmen Go-Jek aus Indonesien so-
wie JD Logistics und Manbang aus
China eingesammelt. Borreck weiß:
„Die asiatischen Anbieter kommen
mit wahnsinniger Wucht. Noch krem-
peln sie vor allem ihren Heimatmarkt
um, doch inzwischen sind sie an der
Schwelle, ihr Geld auch in Europa
einzusetzen.“ Aus den USA hat sich
zudem ein weiterer finanzkräftiger
Spieler zu Wort gemeldet: Uber will
nach dem Taximarkt nun den Logis-
tikmarkt revolutionieren.
Letztlich könnte das Wettrennen
dadurch entschieden werden, wer
das meiste Geld mitbringt. Bis Ende
2018 lagen die Investitionen in sämt-
liche 70 größeren europäischen Lo-
gistik-Start-ups laut einer Studie der
Beratung Oliver Wyman jedoch gera-
de einmal bei 200 Millionen Dollar.
Immerhin: 2019 dürften es deutlich
mehr sein – nicht zuletzt wegen
Sennder.
Krebsforschung
Neue Arzneien lassen hoffen
Mit einer neuen Arzneiklasse
wollen Pharmafirmen die
Wirkung von Immun -
therapien verstärken. Bayer
und Boehringer investieren.
Siegfried Hofmann Frankfurt
A
us „kalten“ Tumoren „heiße“
Tumore zu machen – das ist
aktuell einer der stärksten
Trends in der Pharmaforschung. Dem
schließen sich nun auch die beiden
führenden deutschen Pharmaherstel-
ler Bayer und Boehringer mit verstärk-
ten Investments an.
Innerhalb weniger Tage vereinbar-
ten beide Konzerne neue Deals auf
dem Gebiet: Boehringer kaufte die
Schweizer Biotechfirma Amal Thera-
peutics, Bayer engagierte sich über sei-
ne F+E-Organisation „Leaps by Bayer“
als Hauptinvestor bei der neu gegrün-
deten Biotechfirma Phyxis in Boston.
Was verbirgt sich hinter den Strate-
gien? Im Prinzip geht es darum, das
Wirkspektrum von Immuntherapien
gegen Krebs zu verbreitern. Die For-
schung hatte auf diesem Gebiet in den
letzten Jahren einen gewaltigen
Sprung nach vorn gemacht, mit einer
neuen Klasse von Wirkstoffen, die
man als „Checkpoint-Inhibitoren“ be-
zeichnet.
Diese Mittel neutralisieren einen
Abwehrmechanismus, mit dem sich
Tumorzellen gegen das Immunsystem
des Körpers schützen. Bei etlichen
Krebsarten, so insbesondere bei Haut-
krebs und Lungenkrebs, brachten die-
se Mittel deutliche Fortschritte für die
Therapie mit zum Teil überraschend
hohen Ansprechraten und langer Wir-
kung. Mehrere Medikamente der Klas-
se, so insbesondere die Mittel Keytru-
da von Merck & Co. sowie Opdivo von
Bristol-Myers Squibb (BMS) erzielen
inzwischen Milliardenumsätze.
Allerdings hat sich inzwischen auch
herauskristallisiert, dass diese Immun-
therapien letztlich nur dort wirken,
wo Tumore bereits in erheblichem
Umfang von T-Zellen des Immunsys-
tems infiltriert sind, also bereits ein
gewisser Entzündungsprozess im Gan-
ge ist. Mediziner sprechen in diesem
Fall von „heißen“ Tumoren.
Zahlreiche Krebserkrankungen in-
dessen sind dadurch gekennzeichnet,
dass eine Einwanderung von Immun-
zellen nicht stattgefunden hat oder
durch unbekannte Mechanismen un-
terdrückt wird. Zu diesen „kalten“ Tu-
moren gehören etwa die meisten
Krebserkrankungen im Gehirn, Pros-
tata- und Bauchspeicheldrüsenkrebs
sowie viele Arten von Brustkrebs.
Enormes kommerzielles
Potenzial
Vor diesem Hintergrund richtet sich
inzwischen immer größere Aufmerk-
samkeit auf die Frage, wie man T-Zel-
len noch besser aktivieren und das Mi-
kroumfeld von Tumoren generell bes-
ser zugänglich machen kann für
Zellen des Immunsystems.
Mit entsprechenden Wirkstoffen, so
die Hoffnung, kann die Wirkung der
bereits etablierten Checkpoint-Inhibi-
toren womöglich noch deutlich ver-
bessert und das Einsatzspektrum von
Immuntherapien erheblich verbrei-
tert werden. Sollte das gelingen, könn-
te das weltweite Umsatzpotenzial von
Krebsimmuntherapien nach Einschät-
zung mancher Analysten auf mehr als
100 Milliarden Dollar steigen.
Medikamente, die Tumore „heiß“
machen, bieten daher erhebliches Po-
tenzial, auch in kommerzieller Hin-
sicht. Und dieses Potenzial eröffnet
theoretisch auch für jene Firmen
Chancen, die bisher in dem boomen-
den Feld der Krebsimmuntherapien
noch nicht vertreten sind. Bayer und
Boehringer setzen darauf, bei dieser
zweiten Generation von Immun-Medi-
kamenten mitzuspielen.
T-Zellen spielen
entscheidende Rolle
Dazu engagiert sich Bayer nun als
Hauptfinancier bei der neu gegründe-
ten Biotechfirma Pyxis Oncology. An
der Finanzierungsrunde im Volumen
von 22 Milliarden Dollar sind neben
dem Leverkusener Konzern unter an-
derem auch die Finanzinvestoren
Agent Capital und Longwood Fund
sowie die französische Pharmafirma
Ipsen beteiligt.
Das auf Immuntherapien speziali-
sierte Unternehmen mit Sitz in Boston
stützt sich vor allem auf Forschungsar-
beiten seines Gründers Thomas Ga-
jewski von der Universität in Chicago,
der als einer der führenden Experten
im Bereich der Immunonkologie gilt.
Er befasst sich laut Bayer seit mehr als
zwei Jahrzehnten mit der Rolle von
T-Zellen bei der körpereigenen Ab-
wehr von Krebs und hat mit seinen
Arbeiten zu einem neuen Verständnis
der Mikroumgebung von Tumoren
beigetragen.
Daraus resultieren nach Angaben
des Pharmaunternehmens auch meh-
rere neue Ansätze, die die Aktivität
dysfunktionaler T-Zellen wieder her-
stellen. Diese Erkenntnisse wolle Py-
xis nutzen, um eine Pipeline von Anti-
körpern zu entwickeln, die auf neu
entdeckte immunonkologische Ziel-
strukturen gerichtet sind.
„Wir haben einen systematischen
Ansatz, die Immunbiologie der Mi-
kroumgebung des Tumors zu verste-
hen“, wird Gajewski dazu in einer Mit-
teilung zitiert. „Sie ist anders als bei
anderen entzündlichen Krankheiten.
Wir konnten mehrere neuartige Mole-
küle aufdecken, die Immunantworten
auf Krebs regulieren.“
Effektivität etablierter
Therapien steigern
In eine ähnliche Richtung zielt die
Schweizer Biotechfirma Amal Thera-
peutics, die Boehringer Ingelheim
Anfang der Woche für bis zu 325 Mil-
lionen Euro kaufte. Amal arbeitet an
einer speziellen Impftechnologie auf
der Basis von Peptiden und Protei-
nen, die eine starke Immunreaktion
gegen Krebs auslösen soll.
Das führende Entwicklungspro-
dukt von Amal, einen Proteinwirk-
stoff mit der Bezeichnung ATP128,
will Boehringer nun in Kombination
mit einem eigenen Checkpoint-Inhi-
bitor testen. Die klinischen Studien
dazu sollen noch im Juli anlaufen.
Bayer und Boehringer sind mit die-
sen Strategien indessen keineswegs
allein unterwegs. Auch die führen-
den Akteure im Onkologie-Geschäft,
darunter Merck & Co., BMS, Roche
und Astra-Zeneca, arbeiten intensiv
an Therapien, die das Umfeld von
Krebszellen beeinflussen und so die
Effektivität der etablierten Immun-
therapien verstärken.
BMS etwa investierte dazu im ver-
gangenen Jahr mehr als drei Milliar-
den Dollar in eine Allianz mit der Bio-
techfirma Nektar Therapeutics. Merck
& Co. erwarb unter anderem die aus -
tralische Firma Viralytic und die deut-
sche Biotechfirma Rigontec. Roche
wiederum kooperiert mit der deut-
schen Biotechfirma Biontech, die an
individualisierten Impfstoffen gegen
Tumore arbeitet.
Auch die Darmstädter Merck-
Gruppe, die mit dem US-Konzern
Merck & Co. keine Verbindung hat,
ist im Bereich der Immuntherapien
bereits einen Schritt weiter als ihre
beiden heimischen Konkurrenten.
So ist Merck nicht nur mit einem ei-
genen Krebsimmunmedikament,
dem Wirkstoff Bavencio, bereits im
Markt vertreten.
Darüber hinaus testet der Darm-
städter Konzern mit dem Wirkstoff
Bintrafusp alfa ein Molekül, das so-
wohl als Checkpoint-Inhibitor fungiert
als auch die Aktivität von Immunzel-
len im Tumorumfeld stärken soll.
Klar ist aber auch, dass nach wie
vor riesiger Bedarf besteht, die Wir-
kung von Immuntherapien zu ver-
bessern. Der Markt dürfte damit
Platz bieten für zahlreiche unter-
schiedliche Moleküle und Technolo-
gien, die in Zukunft in Kombination
mit Checkpoint-Inhibitoren einge-
setzt werden. Auch für Newcomer in
dem Bereich bieten sich damit noch
große Chancen.
Forschung bei
Boehringer:
Suche nach einer
neuen Klasse von
Wirkstoffen.
Boehringer Ingelheim
Marktpotenzial
100
MILLIARDEN
Euro könnte das welt-
weite Umsatzvolumen
mit Krebsimmunthe-
rapien nach Einschät-
zung von Analysten
erreichen.
Unternehmen & Märkte
MONTAG, 22. JULI 2019, NR. 138
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