Handelsblatt - 22.07.2019

(sharon) #1
Jan Keuchel, Volker Votsmeier
Düsseldorf

E


s war der letzte Versuch,
doch noch die Stellung zu
halten. Anfang 2018 veröf-
fentlichte der Bayer-Kon-
zern ein rund vierminüti-
ges Video mit Konstanze Diefenbach,
Leiterin Medizin der Bayer Vital
GmbH. Und die Botschaft, die sie ver-
breitete, war eindeutig. Bayer werde
keine neuen Warnhinweise in die Pa-
ckungsbeilage und die Fachinforma-
tionen seines Magen-Medikaments
Iberogast aufnehmen – so wie vom
Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte (BfArM) bereits seit
Jahren gefordert. Für Iberogast, so
Diefenbach, sei das Nutzen-Risiko-Ver-
hältnis „ganz klar positiv“. „Wir sind
der Meinung, dass es nicht im Interes-
se der Patienten ist, Warnhinweise in
die Gebrauchsinformationen aufzu-
nehmen, die unbegründet sind.“
Unbegründet? Mehr als fünf Jahre
lang hatte das BfArM Bayer aufgefor-
dert, Verbraucher und Ärzte über die
Risiken des Inhaltsstoffes Schöllkraut
aufzuklären. 2016 hatte ein Wissen-
schaftler in einem Fachjournal recht
beeindruckend einen Zusammenhang
zwischen Iberogast und einem Leber-
versagen hergestellt. Und kurz vor
Diefenbachs Video hatte die Schwei-
zer Aufsichtsbehörde Änderungen in
den Patienteninformationen zu Ibero-
gast durchgesetzt.
Doch in Deutschland und anderen
EU-Ländern beharrte Bayer auf sei-
nem Standpunkt. Als Diefenbach im
selbst produzierten Video gefragt wur-
de, ob sie das Präparat auch ihrer Fa-
milie empfehlen würde, lächelte sie
milde. Auch für Kinder ab drei Jahren
sei Iberogast – wenn es richtig dosiert
werde – sicher, so Diefenbach. „Bei Er-
krankungen im Magen-Darm-Bereich
nutzen wir in der Familie Iberogast
sehr regelmäßig.“

Fahrlässige Tötung?


Womöglich würde der Pharmariese
das heute nicht mehr so machen. Das
Video jedenfalls hat der Konzern in-
zwischen gelöscht. Routinemäßig, wie
es heißt. Doch der sorglose Umgang
mit Iberogast erweist sich nicht nur
als PR-Problem. Bayers hartnäckige
Weigerung könnte auch ein juristi-
sches Nachspiel haben. Nach Informa-
tionen des Handelsblatts ermittelt die
Staatsanwaltschaft Köln derzeit im
Umfeld des Konzerns. Der Verdacht:
Hätte Bayer früher vor Leberschäden
gewarnt, wären womöglich ein Todes-
fall und etliche Erkrankungen zu ver-
hindern gewesen.
Denn erst als Mitte 2018 bekannt
wurde, dass eine Frau in Deutschland
an Leberversagen und inneren Blu-
tungen gestorben war, die zuvor Ibe-
rogast eingenommen hatte, knickte
Bayer ein und änderte doch noch die
Packungsbeilage und die Fachinfor-
mationen. Seither heißt es dort unter
anderem: „Bei der Anwendung von
Schöllkraut-haltigen Arzneimitteln
sind Fälle von Leberschädigungen (...)
bis hin zu arzneimittelbedingter Gelb-
sucht (...) sowie Fälle von Leberversa-
gen aufgetreten.“
Das Vorgehen der Staatsanwalt-
schaft wiegt schwer. Im Raum stehen
offenbar eine mögliche fahrlässige Tö-
tung und Körperverletzung. Nach den
Recherchen hat die Staatsanwaltschaft
ein Gutachten in Auftrag gegeben, um
die Kausalität von Mitteleinnahme
und Tod zu klären. Das Verfahren soll
sich noch gegen unbekannt richten.
Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft
lehnte eine Stellungnahme dazu ab.
Bei Bayer heißt es, man wisse nichts
von einem Ermittlungsverfahren.

Für den Konzern dürfte das Verfah-
ren unangenehm sein, sowohl was
den Ruf des Unternehmens als auch
dessen Finanzen anbelangt. Denn Ibe-
rogast gehört zu Bayers Top-Sellern
der frei verkäuflichen Arzneien. Be-
worben wird die bittere Flüssigkeit als
Mittel, mit dem Oberbauchbeschwer-
den wie Schmerzen, Völlegefühl oder
Blähungen bekämpft werden können.
Ursprünglich war es von der Firma
Steigerwald entwickelt worden, 2013
übernahm Bayer das Produkt.
Auch dank massiver TV-Werbung
konnte Bayer über die Jahre den Ab-
satz von Iberogast steigern. Der Kon-
zern macht keine Angaben zum Um-
satz mit Iberogast. Nach Zahlen von
Insight Health allerdings liegt der jähr-
liche Umsatz bei rund 120 Millionen
Euro. Hinzu kommt, dass die Kran-
kenkassen Iberogast bisher überwie-
gend erstatten – bei Kindern verpflich-
tend, bei Erwachsenen freiwillig. Im
Jahr 2017 wurden laut Arzneiverord-
nungsreport 1,5 Millionen Tagesdosen
des Präparates zulasten der gesetzli-
chen Krankenkassen verordnet. Die
tatsächliche Anwendungshäufigkeit
liegt nach Schätzung weit darüber.
Doch damit könnte es womöglich
nun vorbei sein. Experten wie der
Hamburger Gastroenterologe Jürgen
Rosien, zugleich Mitglied in der Arz-
neimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft, raten mittlerweile von ei-
ner Verordnung ab – auch und vor al-
lem aufgrund der Risiken von Leber-
schäden. Anders als von Bayer
behauptet, sei die Nutzen-Risiko-Ab-
wägung negativ. „Wir können Ibero-

gast nicht mehr empfehlen, weil die
Bilanz nicht stimmt. Die Nebenwir-
kungen sind zu hoch.“
Er weise Patienten stets darauf hin,
dass die Einnahme des Medikaments
lebensbedrohlich sein kann, sagt Ro-
sien, Leiter der gastroenterologischen
Abteilung im Hamburger Israeliti-
schen Krankenhaus. Doch gerade ärzt-
liche Aufklärung kommt bei Iberogast
gar nicht so häufig vor, da das Präpa-
rat in Apotheken frei verkäuflich ist.
Schöllkraut, das neben acht ande-
ren Heilkräutern in Iberogast enthal-
ten ist, ist schon seit Langem umstrit-
ten. Bereits seit 2008 häuften sich
beim BfArM Meldungen zu uner-
wünschten Nebenwirkungen, insbe-
sondere Leberschäden. Das Amt ver-
fügte einen Stufenplan, der hoch
dosierten Schöllkraut-Mitteln die Zu-
lassung entzog. Bei Dosierungen unter
2,5 mg des Wirkstoffs, so wie bei Ibe-
rogast, sollten Leber-Risiken in die Pa-
ckungsbeilage aufgenommen werden.

115 Verdachtsfälle


Doch Steigerwald und später Bayer
weigerten sich und erhoben Wider-
spruch. Das BfArM forcierte den Streit
daraufhin nicht weiter, nach Aussage
seines Sprechers, weil man sich unsi-
cher war, ob man einen Rechtsstreit
aufgrund der damaligen Datenlage
hätte gewinnen können. „Wir wollten
nicht, dass der Hersteller einen mögli-
chen Sieg wie einen Freispruch pro-
pagiert hätte.“
Bayer berief sich dagegen darauf,
dass die Wirksamkeit von Iberogast
mit vielen Studien belegt sei. Auch
heute heißt es vom Konzern dazu:
„Die Wirksamkeit und Sicherheit von
Iberogast wurde bei über 7000 er-
wachsenen Teilnehmern in prospekti-
ven klinischen Studien nachgewiesen
und bei der Behandlung von mehr als
82 Millionen Patienten seit der Markt-
einführung im Jahr 1960 bestätigt.“
Experten wie Rosien sehen das an-
ders. „Es ist absolut unverständlich,
warum Bayer nicht früher einen
Warnhinweis aufgenommen hat.“
Denn schon die Europäische Zulas-
sungsbehörde EMA kam 2011 zu dem
Ergebnis, dass mit Schöllkraut nicht
zu spaßen ist. „Es fehlen Belege für
die klinische Wirksamkeit, und es
kann keine fundierte Indikation für
die Anwendung nachgewiesen wer-
den“, so die Kommission. Zu Schöll-
kraut gebe es „eine hohe Anzahl von

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Wirkstoff Schöllkraut
ist seit Längerem um-
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Iberogast

Iberogast von Bayer


Gefährliche


Weigerung


Erst nach einem Todesfall gab


Bayer seinen Widerstand auf, vor


möglichen Leberschäden durch


sein Magenmittel Iberogast zu


warnen. Nun ermitteln


Staatsanwälte.


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MONTAG, 22. JULI 2019, NR. 138

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