Handelsblatt - 22.07.2019

(sharon) #1

Gregor Waschinski Berlin


B


undeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) ließ in ih-
rer Sommerpressekon-
ferenz keine Zweifel da-
ran, dass die deutschen
Amtsstuben digitaler werden müs-
sen. „Das wird hohe Zeit“, mahnte
die Kanzlerin.
Wie schwer sich große Verwaltun-
gen bei der Umstellung von Stempel
auf Software tun, verdeutlicht die ge-
setzliche Rentenversicherung. Ihr
Rückstand bei der Digitalisierung ist
groß, wie eine Antwort des Bundes-
arbeitsministeriums auf eine FDP-An-
frage zeigt. Sie liegt dem Handelsblatt
vor. Demnach stammen Teile der be-
nutzten Software noch aus den
1970er-Jahren, außerdem fehlt eine
einheitliche IT-Infrastruktur.
„Leidtragende sind die Mitarbeiter,
die mit veralteten Prozessen und Sys-
temen zu kämpfen haben, sowie die
Versicherten und Rentner, denen
kein einheitlicher Service angeboten
werden kann, der eigentlich im Zeit-
alter der Digitalisierung angemessen
wäre“, kritisierte der rentenpoliti-
sche Sprecher der FDP-Fraktion, Jo-
hannes Vogel. Zwar sei „einiges ver-
sucht und angestoßen worden“ in-
nerhalb der komplexen Gliederung
der Rentenversicherung. Doch selbst
im Vergleich mit anderen Behörden
in Deutschland liege sie bei digitalen
Anwendungen deutlich zurück.
Hinter der Deutschen Rentenversi-
cherung verbergen sich 16 eigenstän-
dige Träger, die meist für bestimmte
Regionen zuständig sind. Alle Sach-
bearbeiter nutzen nach Auskunft der
Bundesregierung dieselbe „Kernan-
wendung“, mit der Beiträge verbucht
und Renten berechnet werden. Die

zugrunde liegende Informationstech-
nik und Infrastruktur unterscheide
sich allerdings je nach Rechenzen-
trum der Träger. Ein gemeinsames
Rechenzentrum soll demnach erst im
Jahr 2024 in Betrieb gehen. Außer-
halb des Kernbereichs der Rentenver-
sicherung seien „teils unterschiedli-
che Programme diverser Hersteller
im Einsatz“, erklärt die Regierung in
ihrer Antwort.
Die „rvSystem“ genannte Kernsoft-
ware der Rentenversicherung sei in
den vergangenen Jahren vereinheit-
licht und überarbeitet worden. „Teile
der Anwendung stammen jedoch aus
den 1970er- beziehungsweise 1980er-
Jahren“, heißt es weiter. „Das sind
mehr als 40 Jahre, da waren Brandt
und Schmidt noch Bundeskanzler
und Computer so groß wie Kühl-
schränke“, kritisierte Vogel. „Das ist
ein Armutszeugnis und unterstreicht,
dass beim Thema digitaler Fortschritt
wirklich erheblich mehr Tempo not-
wendig ist.“
Deutschland liegt laut einer aktuel-
len Erhebung der EU-Kommission
bei der Digitalisierung der Verwal-
tung im europäischen Vergleich un-
ter dem Durchschnitt weit abgeschla-
gen auf Platz 21. Bund, Länder und
Kommunen haben das Ziel ausgege-
ben, die Verwaltung zu modernisie-
ren und Bürgern Behördengänge
über das Internet zu erleichtern.
Bei der Rente verfolgt die Große
Koalition vor allem ein großes Pro-
jekt: einen Onlinecheck für alle
erworbenen Ansprüche aus der ge-
setzlichen Rente, der betrieblichen
Altersversorgung und privater Vor-
sorgeangebote wie der Riester-Rente.
Bisher sind die Informationen ver-

streut. Viele Bürger können daher
nur schwer einschätzen, welches Ein-
kommen sie im Alter erwartet.
Im Frühjahr stellte das Bundesar-
beitsministerium ein Gutachten vor,
in dem ein schrittweiser Aufbau des
zentralen Onlineportals skizziert
wird. Das Gesetzgebungsverfahren
soll dem Vernehmen nach im Herbst
beginnen. „CDU, CSU und SPD haben
den Bürgern eine säulenübergreifen-
de Renteninformation versprochen“,
sagte Vogel. Die Zustände bei der
Rentenversicherung würden aber
nicht darauf hindeuten, dass dieses
Versprechen in naher Zukunft gehal-
ten werden könne.
In den kommenden Jahren gehen
verstärkt die geburtenstarken Jahr-
gänge der „Babyboomer“ in Rente.
Durch die Entwicklung kommt auf
die Rentenversicherungsträger auch
ein größerer Verwaltungsaufwand
zu. Die Bundesregierung schreibt,
dass „der Ausbau digitaler Prozesse
und vor allem die Verbreiterung der
Nutzung der Onlineangebote“ bei der
Bewältigung der demografischen He-
rausforderung für die Rentenversi-
cherung eine wichtige Rolle spiele.
Vogel hält der Großen Koalition da-
gegen vor, bei der Modernisierung
der Rentenversicherung trotz der ab-
sehbaren Arbeitsbelastung auf der
Bremse zu stehen. Das Thema schei-
ne Arbeitsminister Hubertus Heil
(SPD) „leider recht egal zu sein“, sag-
te der FDP-Politiker. Schon heute
müssten Bürger oft zu lange auf ihren
Rentenbescheid warten.
Zahlen der Bundesregierung zei-
gen zudem, dass die Bearbeitungs-
dauer je nach regionalem Träger sehr
unterschiedlich ist: In Berlin-Bran-

denburg beträgt sie im Schnitt 78 Ta-
ge, in Nordbayern 41 Tage. „Eine
durchgreifende Digitalisierung der
Rentenversicherung ist unverzicht-
bar“, konstatierte Vogel.
Der Internetauftritt der Rentenver-
sicherungsträger wird nach Angaben
der Regierung monatlich etwa 27 Mil-
lionen Mal aufgerufen. FDP-Politiker
Vogel gab zu bedenken, dass nicht je-
der Aufruf eine Nutzung von Online-
dienstleistungen sei. Außerdem
„überzeugen diese Zahlen bei einer
Gesamtsumme von insgesamt über
55 Millionen Versicherten der Ren-
tenversicherung nicht wirklich“. Eini-
ge Dienste wie die digitale Antrags-
stellung würden pro Jahr deutlich sel-
tener als 100 000-mal aufgerufen.

Sozialversicherung


Digitaler Rückstand bei der Rente


Veraltete Software und ein IT-Flickwerk verhindern zügige Modernisierung der Rentenversicherung.


Stempel statt Software:
Die Rentenversicherung
hat Nachholbedarf bei der
Digitalisierung.

imago/ecomedia/robert fishman [M]

imago/Future Image

Bei der


Digitalisierung


der Rente


steht die


Regierung


auf der


Bremse.


Johannes Vogel
FDP-Rentenexperte

Die Gesellschaft altert
Bevölkerung ab 67 Jahren in Mio.

19,83 Millionen


HANDELSBLATT

2019 2032


Quelle: Destatis

20,

18,

17,

15,
Basis 2018 • Jeweils 31.12.

Annahmen:
Geburtenrate 1,
Kinder je Frau;
Lebenserwartung:
Jungen 84,4,
Mädchen 88,1 Jahre;
durchschnittlicher
Wanderungssaldo
221 000 Personen
pro Jahr.

Wirtschaft & Politik
MONTAG, 22. JULI 2019, NR. 138

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